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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Begründungen für die offenbarten Religionen mit jedem Tag lächerlicher erschienen. Außerdem hatte Jan-Hendrik nie jene Angst verspürt, die viele in die Arme der Missionare trieb – die vor dem Tod. Bei aller christlichen Ausbildung hatte ihn genau dieser Aspekt immer am wenigsten interessiert; er hatte die Religion als Handhabe für das Jetztleben verstanden, weniger als Vorbereitung für das diffuse Danach, dessen heiligschriftliche Beschreibungen nicht einmal bei völliger Preisgabe der faktischen Kernaussage als Metaphern geeignet waren. Die abscheuliche Vermutung wurde schließlich zur Gewissheit: Jan-Hendrik glaubte nicht daran, dass es einen Gott gab. Es konnte keinen geben, ebenso wenig wie Bertrand Russells Teetasse. Eine Idee, eine Erfindung, ein Macht- und Beruhigungsmittel, immerhin auch ein ethisches Modell, aber dafür brauchte man keine Rituale, Gebete, keine Furcht vor einem Gott und keine Hoffnung auf ein Jenseits. Henner schwor geistig ab, verweigerte sich aber noch der Erkenntnis, ein Leben ohne jede Basis zu führen – und vor allem ohne Zukunftsaussichten, denn er liebte seine Frau nicht und auch nicht seinen Gott, vor allem aber tat er beruflich etwas, das er täglich immer weniger mit den eigenen – nach wie vor umfassenden – Moralvorstellungen verbinden konnte. Er führte, wie er sich ehrlich eingestehen musste, ein Doppelleben. Eines, von dem er übrigensdurch seine vielen Kontakte wusste, dass es keineswegs einzigartig war.

    »Hammer«, sagte Simon leise, als Jan-Hendrik seine Erzählung beendet hatte.
    »Feinkörnig«, bestätigte Mark, der während der Viertelstunde, die Henner benötigt hatte, aus Servietten eine kleine Schwanenfamilie gefaltet hatte.
    Ich fand es nicht hammer oder feinkörnig , sondern nicht weniger als fundamental erschütternd. Jan-Hendrik zog eine Zigarette aus der fast entleerten Lucky Strike -Schachtel, zündete sie mit zitternden Händen an und starrte dann aufs Wasser. Mir fiel kein besserer Vergleich ein – ich dachte an Keanu Reeves alias Neo, der in »Matrix« erfahren muss, dass er ein Leben zu führen glaubt, das jedoch überhaupt nicht existiert, sondern nur eine exzellente Illusion ist. Der Vergleich hinkte zwar lautstark polternd, aber die praktischen Auswirkungen ähnelten sich: Es gab die Möglichkeit, die Illusion fortzuführen, eine bequeme, aber moralisch fast unhaltbare Variante, und die Alternative, sich den Tatsachen zu stellen, um ein vollständig ungewisses, gefährlicheres Leben völlig neu zu beginnen, eines, das die Vergangenheit wie ein lächerliches Märchen erscheinen ließ. Ich betrachtete den ungläubigen Pfarrer, der nachdenklich die Wasseroberfläche musterte, sich an Rauchringen versuchte, die vom schwachen Wind rasch verweht wurden, und insgesamt ein Bild abgab, dem das Wort »bemitleidenswert« längst nicht gerecht wurde. Meine kleinen Beziehungsschwierigkeiten kamen mir mit einem Mal wie echte Luxusprobleme vor, und ich suchte händeringend nach tröstenden Worten für Henner, fand aber keine, also schwieg ich.

    Mark steuerte in Richtung Stolpsee. Simon, Henner – beide rauchend – und ich saßen auf der Bank am Bug, wir alle mit Bierflaschen bewaffnet.
    »Du könntest einfach weitermachen. Niemand würde es je erfahren«, schlug Simon vor. Er zog die Stirn in Falten, vermutlich war ihm der Gedanke gekommen, dass wir es bereits wussten. »Ich meine, man kann schließlich nicht nachprüfen, ob jemand wirklich an Gott glaubt.«
    »Das Ergebnis dieser Prüfung wäre ziemlich ernüchternd, wenn sie möglich wäre«, sagte Henner und lächelte dabei traurig. »Ich glaube kaum, dass wirklich viele tatsächlich ihr Leben darauf verwetten würden, dass es irgendeinen dieser Götter gibt, Funktionäre der Amtskirchen inbegriffen. Vielleicht ein paar tausend, wie diese zutiefst reaktionären Schweine, die sich selbst und viele andere zerbomben und dafür höflich als ›radikale Islamisten‹ bezeichnet werden. Die anderen hoffen nur, klammern sich an eine obskure Wahrscheinlichkeit, die überhaupt nicht existiert. So, wie es auch keine Wahrscheinlichkeit gibt, als starker Raucher Lungenkrebs zu bekommen.«
    Simon blickte auf, schließlich war das sein Thema, Henner betrachtete die Zigarette in seiner Hand. »Wie meinst du das?«, fragte der Handwerker.
    »Na ja, statistisch betrachtet erkranken vielleicht zwanzig, dreißig Prozent der starken Raucher an Lungenkrebs, aber es gibt keine persönliche Wahrscheinlichkeit von sagen

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