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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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ein bisschen nachdenken, über die vergangene Nacht, darüber, dass Henner Cora doch kannte, über Simon, Marks Kokserei, aber mitten im ersten Gedanken schlief ich ein.

Tag 7:
Staken
    Staken – ein Boot mit einer Stange
vom Grund abstoßen und dadurch fortbewegen.

Dieser Morgen stellte im Vergleich zum vorigen zunächst einen echten Fortschritt dar. Ich erwachte ziemlich erfrischt, fühlte mich körperlich überaus wohl, war ausgeschlafen, energiegeladen und hungrig, verspürte Kaffeedurst. Die Sonne schien durch die Gardinenlücke, die ich sofort auf Breite des Fensters zog, das ich anschließend öffnete – es roch nach See, nur mein ungereinigtes Waschbecken und meine Klamotten müffelten noch ein wenig; der Geruch von kaltem Rauch war ohnehin omnipräsent, woran ein ganzer Tag ohne Simon nichts geändert hatte.
    Nach einigen Sekunden des Wachseins erreichte mich der Blues allerdings mit unerwarteter Wucht. Was mein verkleistertes Hirn gestern noch leicht verfälscht und dann verdrängt hatte, präsentierte sich im klaren, sonnigen Morgenlicht gleich den Ruinen einer nuklear bombardierten Stadt nach der Auflösung des Atompilzes und Abzug der Staubschwaden. Wie ein hochaufgelöstes Schwarzweißfoto sah ich vor meinem geistigen Auge, was vorgestern Abend geschehen war. Bilder von uns, saufend und fickend, wechselten sich in rascher Folge ab, und ich konnte sogar noch den Zeitpunkt des vermeintlichen Kontrollverlusts genau ausmachen, ohne darin eine Entschuldigung für unser, nein, mein Tun zu finden. Cora hatte Kondome punktiert, und Cora ließ sich vermutlich im Allgäu von ihrem Bassisten penetrieren. Aber ich, ich hatte an einer wahnwitzigen Orgie teilgenommen, für die »zwanzig Ouzo, dreißig Biere und eine blaue, ovale Tablette« nach einer sehr, sehr schwachen Ausrede klang, sogar für mich selbst, der ich dabei gewesen war. An diesem Morgen war es nicht Scham, was ich verspürte, sondern das starke Gefühl, etwas verloren, sogar verschenktzu haben, dessen Wert ich bisher zu gering geschätzt hatte: Selbstachtung.
    Jemand klopfte an meine Kabinentür. Mark sagte: »Da ist ein alter Typ mit einem Boot.« Auch durch das dünne Holz klang er noch ziemlich geschwächt. Es war kurz nach sieben. Ich kletterte in Jogginghosen und ein relativ frisches Shirt, goss mir Wasser ins Gesicht, den Harnduft des Beckens ignorierend, kämmte meine fettigen Haare, erwog kurz, mich zu rasieren, ließ es aber – und stieß zu den anderen. Henner und der nach wie vor recht blasse Mark standen auf dem Vorschiff und redeten mit Herbert, der am Steuer eines Bootes saß, das für mich wie ein Rennboot aussah. Es war flach, gute acht Meter lang, hatte einen spitzen Bug und einen mächtigen Außenborder vom Format eines LKW-Dieselaggregats. Herbert warf soeben eine Leine in Henners Richtung, offenbar nicht zum ersten Mal, aber der Pfarrer stellte sich so ungeschickt an wie vor fünf? sechs? verdammt! Tagen an der Schleuse Steinhavel bei der ersten Durchfahrt. Ich postierte mich neben ihm, griff mit einer Hand die Reling und nickte Herbert zu. Zwei Minuten später war sein Boot mit dem unseren verbunden. Zwischen den Schiffen lagen sechs, sieben Meter.
    »Einer geht ans Steuer. Startet die Maschine. Ausgekuppelt lassen. Erst was machen, wenn der Pott wirklich frei ist.«
    Wir nickten brav, Henner ging an den Steuerstand und öffnete die Frontscheiben.
    Herbert gab vorsichtig Gas; die Maschine seines Bootes ließ ein sattes, kraftvolles Blubbern hören, die Leine spannte, aber die Dahme machte keine Anstalten, irgendwie zu reagieren. Der alte Seebär nickte lächelnd, schob den Hebel weiter vor. Das Wasser hinter seinem Boot sprudelte, aus dem Blubbern wurde ein Dröhnen, ich konnte zuschauen, wie der Schlamm aufgewühlt wurde. Dann gab es einen Ruck, in den Schränken klirrte es, wieder einmal. Mindestens das Geschirr werden wir so gut wie komplett ersetzen müssen, dachte ich.
    Ein Schleifgeräusch, das ob des Motorendröhnens kaum wahrzunehmen war, begleitete den Weg unseres Schiffes in die Freiheit. Fünf Minuten später befanden wir uns in sicherer Wassertiefe, ließen die Ankerkette rasseln, Herbert ging mit seinem Topf längsseits und machte fest. Mark schenkte mit immer noch leicht zitternden Händen frischen Kaffee ein. Der alte Mann kam in den Salon, sah sich interessiert um und schnüffelte.
    »Party, hä?«
    Henner nickte grinsend. Herbert nickte ebenfalls.
    »Ihr könnt von Glück reden, dass gestern so beschissenes

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