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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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aber weg. Sonst fehlt nichts.«
    Das schien ihm nicht sonderlich viel auszumachen. Ich polterte in meine Kabine. Das Telefon lag noch da, meine Geldbörse auch – allerdings war das Fach für die Scheine leer. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie viel Bargeld ich gezogen hatte, gab den Versuch aber alsbald auf.
    »Wir sind noch auf dem Zierker See«, erklärte Henner, blinzelnd sein GPS-fähiges Tablet fixierend. »Nordufer. Neustrelitz muss ungefähr da sein.« Er wies mit zitternden Fingern zum Bug. Dichter Nebel hüllte weiterhin alles ein, was sich mehr als sechzig, achtzig Meter entfernt befand.
    »Immerhin«, sagte ich. Wir hätten auch in der Sahara liegenkönnen – nach meiner Einschätzung gab es keine Möglichkeit, den Kahn ohne fremde Hilfe wieder flottzukriegen. Ruder und Propeller steckten im Uferschlamm, aber laut Karte war es hier sowieso viel zu flach für die Dahme – wir hatten zwar nur einen knappen Meter Tiefgang, aber das Wasser um uns herum war um fast einen halben flacher.
    »Ich sehe so bläuliche Schleier. Und ist es für dich auch so hell?«
    Ich schüttelte bedächtig den Kopf. »Das kommt vom Sildenafil. Nebenwirkungen.«
    »Sildenwas?«
    »Das Viagra.«
    »Aha.«
    Dann beobachteten wir Mark, der auf allen vieren die Stufen zum Salon zu überwinden versuchte. Er schnaufte lautstark und schüttelte sich. Oben angekommen, erbrach er schwallartig. Dann ging er in die Hocke. Er war um zwei Jahrzehnte gealtert, sah aus wie ein Zombie. Seine Haare klebten, der Bereich um seine Nase und die Oberlippe waren flächig entzündet. Auf dem hellen Shirt, das er trug, schimmerten um die Spuren des Erbrochenen herum hellrötliche Feuchtigkeitsspuren. Die blaugrauen Boxershorts hingen auf Halbmast.
    »Ich will sterben«, jammerte er, schob die Sonnenbrille ins verschmierte Haar und glotzte die eigene Kotze an, die gemächlich nach Backbord floss – hauptsächlich grünbraune Flüssigkeit. »Und alles ist schief. Warum ist alles schief?«
    Wir halfen ihm, sich auf die Bank zu setzen, deren Polster massiv fleckiger waren als noch vor einem Tag zur gleichen Zeit. Henner setzte frischen Kaffee auf und flößte Mark Kopfschmerztablettensud ein. Das führte dazu, dass er sich gleich wieder röhrend übergab, zwischen die eigenen Füße. Ich ekelte mich nicht, es kam mir ganz natürlich vor.
    »Sind wir gekentert?«, fragte er langsam, als er wieder saß, der Oberkörper zuckend. »Wo sind wir?«
    »Irgendwo am Seeufer«, sagte Henner.
    »Wir sind gefahren ? Gestern Nacht noch?«
    »Sieht wohl so aus. Aber daran erinnern kann ich mich auch nicht.« Wieder lächelte Henner. Dafür an fast alles andere, sagte dieses Lächeln. »Und Simon ist verschwunden.«
    Wir bargen aus Simons Kabine alle Telefone, die wir dort vorfanden. Dann wählte jeder die Nummer, die er auf seinem eigenen Handy gespeichert hatte; Mark, dessen Hände deutlich stärker als unsere flatterten, benötigte vier Versuche – nacheinander blinkten die Displays, vibrierten die Apparate. Ab und an meldete sich auch eines der anderen Telefone – Standard bei Simon. Leute versuchten, ihn zu erreichen, um Geld einzufordern oder die Fertigstellung irgendeines Bauprojekts, für das er ein, zwei Tage veranschlagt hatte – die nunmehr Monate, gar Jahre zurücklagen. Und vermutlich auch die Russen. Aber wir hatten keine Chance, ihn zu erreichen.
    »Und nun?«, fragte Henner.
    »Wir sollten versuchen, den Kahn wieder freizukriegen«, schlug Mark leise vor. »Aber rechnet nicht auf mich. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es schaffe, den Gashebel zu bedienen. Ich bin echt völlig fertig.«
    Das hätte er nicht sagen müssen. Er sah aus wie die Leute, denen im »Tatort« das Tuch vom Gesicht gezogen wird, nur die Y-förmige Obduktions-Narbenanordnung am Oberkörper fehlte: »Ist er das?« – heulen, nicken. Ja, das ist er. Mark, quasi tot, bis unter die Hirnrinde voll mit Ouzo und Kokain-Hydrochlorid. Wir staunen auch, dass er noch reden kann. Okay, in einem fantastischen Zustand befanden Henner und ich uns auch gerade nicht. Aber Marks markierte eine weitere Steigerung.
    Henner und ich kletterten über die Badeleiter ins flache, laue Uferwasser. Der Untergrund war sandig und mit Steinen übersät – mein lädierter Gleichgewichtssinn lief auf Maximum.Wir standen kaum bis zu den Oberschenkeln im Zierker See. Henner zog sich vorsichtig bis zum Bug, wo es auch nicht viel tiefer war – das Wasser reichte ihm gerade bis zum unteren Saum der

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