Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
Vom Netzwerk:
tätowiert. Neben ihm auf der Bank stand ein leerer Plastikbecher mit Kaffeerand.
    »Jan-Hendrik«, sagte ich betont laut zur Begrüßung.
    »Patrick«, murmelte Simon.
    »Eins achtundneunzig?«, fragte der Beamte, der die Personalien überprüfte, und zog dabei die Stirn kraus.
    »Achtundfünfzig«, korrigierte Simon mit einem Lächeln, das er sonst nur für Täubchen verwendete. »War ein Fehler, ich hätte das ändern lassen müssen, ich weiß.«
    Der Polizist musterte den Ausweis weiterhin. Wahrscheinlich waren sie hier, im beschaulichen Neustrelitz, hauptsächlich mit leichten Verkehrsdelikten und Ladendiebstählen befasst. Ein Besoffener, der auf den Gleisen schlief, gehörte da schon zu den Fällen, die man sich auch Jahre später noch bei Weihnachtsfeiern erzählte: »Erinnerst du dich, dieser Penner aus Berlin, den wir damals von den Schienen geholt haben?«
    »Mmh-mmh«, machte der Beamte, wie Herbert anderthalb Stunden zuvor. Er tippte an seinem Computer herum, einer Möhre aus den Neunzigern, nickte, legte den Kopf schief, nickte wieder.
    »Ja«, sagte er dann. Simon versteifte sich.
    »Wir haben eine Anzeige aufgenommen. Gefährdung des Schienenverkehrs.«
    Simon nickte schuldbewusst. Ich war ein bisschen neidisch – es war sicherlich nicht leicht, wegen einer Gefährdung des Schienenverkehrs angezeigt zu werden.
    »Ihre Blutwerte lagen jenseits von Gut und Böse.« Der Polizist griff nach einem Ausdruck. »Vier Komma zwei Promille.« Er sah Simon an, fast etwas ehrfürchtig. »Das überlebt nicht jeder.«
    Simon zuckte die Schultern. Der Beamte schnaufte.
    »Nun gut, Herr Balsam.« Er reichte Simme den Ausweis. »Sie werden von uns hören. Bis dahin …«
    »Wird nicht wieder vorkommen«, sagte Simon leise und lächelte dabei wie ein Schulkind, das die erste Hälfte des Alphabets richtig aufgesagt hat.
    Draußen schnappte er sich sofort die Schachtel, die ich vorsorglich mitgebracht hatte, aber an ein Feuerzeug hatte ich nicht gedacht. Also ging Simon einfach wieder ins Revier und kam eine Minute später mit glimmender Kippe im Mund heraus.
    »Wolltest du dich umbringen?«, fragte ich geradeheraus, das Klapprad neben ihm herschiebend.
    Er sah mich kurz an, entzündete die nächste Zigarette an der vorigen, die er quasi in einem Atemzug genommen hatte, und nickte dabei langsam.
    »Gut möglich«, sagte er leise. »Ich weiß es nicht mehr, aber es ist möglich.«
    Wir schlurften durch Neustrelitz und bemerkten erst nach einer Weile, dass wir den Kern der kleinen Stadt längst hinter uns gelassen hatten. In einer staubigen, unschönen Straße aktivierte ich die Routenplanung meines Telefons abermals. Wir waren genau in die verkehrte Richtung gegangen, standen aber direkt vor einer kaum als solche zu erkennenden Bäckerei, eingeklemmt zwischen zwei verfallenden Restaurants – einem italienischen und einem griechischen –, die aussahen, als würden ihre Besitzer derselben Mafiafamilie viel zu viel Schutzgeld zahlen.
    »Holen wir ein paar Brötchen fürs zweite Frühstück«, schlug ich vor.
    »Wäre mein erstes«, sagte Simon und öffnete die verkratzte Eingangstür. »Gab nur Kaffee bei den Bullen.«
    Ich war vom Anblick des Ladeninneren so verblüfft, dass ich beinahe vergaß, warum wir es betreten hatten. Auf den »Konsum«-Regalen lagen ganze zwei Brote, in den milchigen Auslagen befand sich lediglich ein einsames Blech Streuselkuchen, und in einem Korb auf dem Tresen lagen zehn Brötchen. Mehr Angebot existierte nicht. Dafür standen drei Frauen plus/minus zehn Jahre rund ums Rentenalter hinter dem Tresen, in fleckigen Kitteln, und ich hatte kurz das Gefühl,sie würden uns hoffnungsvoll anschauen, bis ich herausfand, dass es überhaupt keine Regungen in ihren Gesichtern gab. Ebenso abwesend war jede Art von Dekoration in diesem Geschäft; die Wände waren sicherlich zuletzt vor der Vereinigung tapeziert worden, und der Fußboden sah aus wie derjenige einer Schulaula, die in den Fünfzigern gebaut worden war. Es war schlicht äußerst deprimierend. Mir wurde kalt, obwohl es hier drin noch heißer als draußen war.
    »Bitte?«, fragten alle drei Verkäuferinnen zugleich.
    Simon und ich zählten unser Klimpergeld – Scheine besaßen wir ja nicht mehr – und kamen immerhin auf eine Summe, die ausreichte, um die Brötchen, die beiden Brote und zehn Stücke Streuselkuchen zu kaufen. Es hätte mich nicht überrascht, hätten sich die drei Frauen zu einem gemeinschaftlichen Kotau vor uns auf den

Weitere Kostenlose Bücher