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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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begegnet, der auch vorhanden ist, sein Recht fordert. Gönn ihm dieses Recht. Und finde danach heraus, ob er recht hatte .«
    »Du meinst …?«
    »Ich meine überhaupt nichts. Ich bin der schlechteste Berater, den du dir vorstellen kannst. Wie sang Regener in ›Don’t You Smile‹? You fucked up your life . Das bin ich , und ich lächle trotzdem, wie der Typ in diesem Song. Aber ich weiß eines ganz gewiss: Was man unterdrückt, ist niemals weg. Es ist eben nur unterdrückt. Nutze die Gelegenheit, es mal rauszulassen. Es kann ja das einzige, erste und letzte Mal sein. Eine Form von einmaliger Ehrlichkeit dir selbst gegenüber. Aus der du etwas lernen kannst.«
    Ich schwieg und sah zu dem orangegelben Leuchtpunkt achtzig Zentimeter von mir entfernt.
    »So, und jetzt muss ich pinkeln«, sagte er in mein Schweigen. Und dann, als hätte ich vorhin laut gedacht: »Tu mir einen Gefallen, geh noch nicht schlafen. Das wird noch ein netter Abend.«
    Er legte mir eine Hand auf die Schulter. Dann umarmte er mich, dieser kleine Mann, der nach sehr viel Rauch und, obwohl sein letzter Job über eine Woche zurücklag, nach Tapetenkleister roch. Ich war erst überrascht, umarmte ihn schließlich auch.
    Mit dem nächsten Bier verringerten sich Melancholie und Trübsinn wieder, mit dem übernächsten war beides fast vergessen. Ein Kanute erzählte von einer Hausboottour, die er im vergangenen Jahr auf dem irischen Shannon unternommen hatte, sechs Männer, vierzehn Tage lang strunzhacke von Edeldestillaten. Die Herren hatten, bis sie im entsprechenden Hafen lagen, nicht geglaubt, dass Limerick tatsächlich ein Ortsname ist, und natürlich trug er gleich im Anschluss ein halbes Dutzend unlustige Limericks vor. Ein Bootsbesitzer, dessen Jacht hier im Hafen lag, meckerte eine Viertelstunde lang über die Chartertouristen, bis ihn Karola, die Hafenmeisterin, unter viel Gelächter mit Hausverbot bedrohte. Ein Kanufahrer holte eine Gitarre hervor und versuchte erfolglos, uns zum Chorsingen zu bringen, und verzog sich danach verärgert zur Wiese, um dort beim Aufbauen der Zweimannzelte für die Kanutruppe zu helfen. Karola schaltete die Außenbeschallung ein und startete eine CD mit Altherrenmucke – Rockklassiker aus den Siebzigern. Ein paar Leute tanzten, darunter Henner mit seiner Eroberung. Selbst im Halbdunkel waren die amüsanten Bewegungen des mächtigen Grobmotorikers gut zu sehen, aber es scherte ihn nicht und seine Kanutin offenbar noch weniger. Simon ging, Hand in Hand mit Karola, zu unserem Boot. Mark verschwand und kehrte mit koksstaubverschmierter Nase zurück, ich langte kurz zu ihm hinüber und wischte ihm das Gröbste von der Oberlippe, den Rest entfernte er dann rasch selbst.
    Kurz darauf setzte ein Intro ein, von dem ich sofort eine Gänsehaut bekam. Zunächst die knarzende Spielerei an einem Radio, kurz Tschaikowskis 4. Sinfonie, dann David Gilmores Stahlgitarre, erst leicht verzerrt, als würde sie ebenfalls aus einem alten Mono-Transistorradio kommen, bis die Klänge plötzlich in einer Klarheit zu hören waren, die ich der Beschallung nicht zugetraut hatte: »Wish You Were Here«. Pink Floyd hatte mir nie etwas bedeutet, mal davon abgesehen, dasses kaum eine Band oder Mucke gab, die ich übermäßig spannend fand, aber dieser Song stand zweifelsohne weit über vielen ähnlichen.
    »Lass uns tanzen«, sagte Anna und zog an meinem rechten Unterarm.
    Wir tanzten. Engtanz, wie damals, vor Millionen von Jahren, als wir das, pickelig bis zum Bauchnabel, für eine Art Vorspiel, eigentlich aber für Beinahesex gehalten hatten, und genau dieses Gefühl setzte jetzt auch wieder ein. Meine linke Hand lag auf Annas linker Schulter, meine rechte von hinten an ihrer Hüfte, kurz über der Rundung ihres fantastischen Gesäßes, aber sie hatte ihre Arme einfach hinter meinem Rücken überkreuzt und drückte sich fest an mich. Wir bewegten uns minimal, setzten die Füße mit jedem Takt nur ein paar Zentimeter zur Seite. Das Lied schallte über das Hafengelände, jemand drehte lauter, am Tisch schwiegen plötzlich alle, sogar ein paar ältere Pärchen standen auf und gesellten sich zu uns.

    And did they get you to trade
    Your heros for ghosts?
    Hot ashes for trees?
    Hot air for a cool breeze?
    Cold comfort for change?

    Did they get you to trade cold comfort for change? , dachte ich und presste Anna an mich, die das körperlich offensiv begrüßte. Wessen Gefangener bin ich eigentlich? Mein eigener? Bin ich auch jemand, der nur an

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