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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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schnappatmend wie ein Karpfen im Kescher. Erst als er fast fünf Jahre alt war, beruhigte sich der kleine Brüller etwas, aber in diesem Alter war er für die meisten suchenden Adoptiveltern bereits zweite Wahl. Für Renate und Helmut Rosen aus Berlin-Britz, beide spät in den Vierzigern und praktisch ohne nähere Angehörige, war er allerdings die erste: Das alternde Pärchen hatte längst die Hoffnung aufgegeben, den seit Jahrzehnten gehegten Kinderwunsch noch erfüllt zu bekommen, und griff beherzt zu, als ihnen der Junge mit dem dunklen, lockigen Haar angeboten wurde. Die beiden bewohnten ein pittoreskes Reihenhaus mit Einliegerwohnung nicht weit vom U-Bahnhof Parchimer Allee entfernt und umsorgten den kleinen Scheißer fortan, als wäre er mindestens das Jesuskind; kaum drei Monate später stellte er die Schreierei ersatzlos ein. Das Wort »behütet« wäre eine maßlose Untertreibung für das, was das Pärchen ihm angedeihenließ. Mark wurde zum vergötterten Lebenszentrum der Rosens, und es gab keinen noch so ausgefallenen Wunsch, dessen Erfüllung sie ihm verweigert hätten. Der Junge honorierte diese Zuwendung seinerseits mit einer hinreißenden Liebe für seine Adoptiveltern, wodurch sich quasi ein positiver Teufelskreis ergab: Jede noch so kurze Trennung voneinander stürzte sämtliche Beteiligten in elementare Krisen, und noch bis weit ins dritte Schuljahr hinein harrte das Ehepaar abwechselnd in der Schule aus, um den Filius in jeder Pause betuddeln zu können, was ihm zwar Hohn und Spott seiner Klassenkameraden einbrachte, die Bindung aber nur noch inniger werden ließ. Die drei wurden zur Symbiose, die sofort am Rand einer Katastrophe lavierte, dauerte eine Trennung länger als eine Dreiviertelstunde, zugleich verweigerte sich das Trio jeder Annäherung Dritter: Renate und Helmut hatten ohnehin keine Freunde, Verwandte nur fernab lebend und höchstens x-ten Grades, und Klein-Mark entwickelte lange Zeit kein Interesse daran, sich anderen Kinder mehr als unbedingt nötig zu nähern. Erst gegen Ende der Grundschulzeit schaffte er es, einen kompletten Schultag hinter sich zu bringen, ohne seine Eltern zwischendrin zu sehen, aber die beiden Klassenreisen im siebten und neunten Schuljahr musste er schon nach zwei Tagen abbrechen.
    Renate und Helmut waren alles andere als begütert – Renate arbeitete als Floristin und Helmut als Sachbearbeiter im Arbeitsamt. Das addierte Salär reichte kaum aus, um die Hypothek abzuzahlen, geschweige denn die nie geäußerten, aber trotzdem umgehend erkannten Wünsche des über alles geliebten Adoptivsohns zu erfüllen. Die Rosens verschuldeten sich, überschuldeten sich gar, als Renate ausgerechnet eine Allergie gegen einige Blumenduftstoffe entwickelte und den Job in der Floristik aufgeben musste. Aber irgendwie schafften sie es – Mark zog mit sechzehn in die Einliegerwohnung und wurde Herr über sein eigenes Leben, ohne auch nur das allergeringsteInteresse dafür zu entwickeln, ein eigenes Leben zu führen. Freundschaften gab es nach wie vor nicht, die Kontakte zum Weibsvolk reduzierte er auf Few-Day-Stands, die er allerdings sehr genoss und zum Beziehungsmodell erhob. Er legte die Reifeprüfung ab, studierte dies und das und auch jenes, immer ein, zwei oder drei Semester, und merkte genauso wenig wie seine inzwischen fast siebzig Jahre alten Eltern, dass alle drei daran arbeiteten, den Status quo um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Mark blieb der umsorgte Sohn, Renate und Helmut blieben die umsorgenden Eltern. Er gab die Studiererei schließlich auf und wechselte anschließend die Jobs wie zuvor die Studienfächer. Kellner, Türsteher, Rundfunkmoderator, Galerist, Copyshop-Mitarbeiter, Pizza-Lieferfahrer, Fahrradkurier, Grabredner und vieles andere mehr, meistens allerdings war er erwerbslos und auf die großzügigen Zuwendungen seiner inzwischen verrenteten – und theoretisch längst pflegebedürftigen – Eltern angewiesen. Eine Fortbildung zum Mediendesigner schloss er immerhin ab, ohne währenddessen je erfahren zu haben, was ein Mensch mit einer solchen Fortbildung eigentlich macht.
    Und damit endete die Erzählung. Mark lebte nach wie vor in der Einliegerwohnung nicht weit vom U-Bahnhof Parchimer Allee entfernt, Helmut saß inzwischen im Rollstuhl, und Renate musste sich Dinge aufschreiben, die sie sonst in Stundenfrist wieder völlig vergaß, aber die krachende und knirschende, jedoch ungebrochen äußerst liebevolle Symbiose existierte weiterhin.

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