Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
Vom Netzwerk:
und die er schmunzelnd als »Karola« vorstellte. Henner redete mit einer Kanutenfreundin von Anna, die zwar weit weniger hübsch war, aber an den Lippen des Pfarrers hing, als wäre er wiederum ein Zwilling von Mark Wahlberg oder dem frühenBrad Pitt. Mark blinzelte, als wir kamen, und murmelte etwas, vermutlich »feinkörnig«. Ich deutete ein Kopfschütteln an; Mark zog eine Augenbraue hoch. Nicht? , hieß das. Dazu nickte ich kurz.
    Wir saßen beieinander, quatschten intensiv durcheinander, aber es gelang mir nicht so recht, mich in die Situation einzufinden – immer wieder drifteten meine Gedanken ab, auch in Richtung Allgäu. Weil während der folgenden anderthalb Stunden immer mehr Kanuten und auch ein paar Stammgäste an unseren Tischen Platz nahmen, rückten wir fortwährend dichter zusammen, wodurch Annas linker Oberschenkel ständig an meinem rechten rieb – häufiger als unbedingt nötig, wie ich meinte. Mir fiel durchaus auf, dass sie mich nicht nur bei diesen Gelegenheiten von der Seite musterte, aber sofort wegschaute und scheininteressiert jemand anders ansah, wenn ich eine Kopfdrehung andeutete. Zwischendrin wechselten wir ein paar Worte, ich erzählte von meinem Job, sie davon, dass sie Erzieherin in einem Jugendheim in Potsdam sei. Den Großteil des Gesprächs an unserem Tischflügel bestritt Mark, der beinahe Entertainerqualitäten demonstrierte, als er von den Highlights unserer Kreuzfahrt berichtete, sehr zum Gefallen seiner Zuhörer. Glücklicherweise ließ er die Nacht von Neustrelitz aus, aber der rasche Alkoholkonsum am gesamten Tisch ließ mich befürchten, dass er früher oder später auch damit herausrücken würde. Ich trank relativ zurückhaltend, und beim dritten halben Liter stellte ich fest, dass ein Gefühl einsetzte, dass ich früher oft, während dieser Fahrt noch nie beim fortgesetzten Trinken gehabt hatte – irgendwas zwischen Sehnsucht, Heimweh, grundlegender Melancholie, Selbstanklage und tiefer Reue. Als ich aufstand, um zu den Toilettengebäuden auf der Rückseite des Restaurants zu schlurfen, wurde aus diesem Gefühl kurz ein intensiver Schmerz, verstärkt durch Annas Blicke, die ich im Rücken spürte. Ich stand im Dunkeln, nur ein paar Meter vom Tischentfernt, über dem eine Geräuschwolke aus Gelächter und Geschwätz hing, und wünschte mich weit fort. Auf dem Rückweg vom Klo dachte ich darüber nach, einfach zum Boot zu gehen und mich in die Koje zu werfen. Oder sogar ein Taxi zu rufen und nach Hause zu fahren.
    »Die ist wirklich niedlich«, sagte plötzlich jemand neben mir, dessen Herankommen ich nicht bemerkt hatte. Die Glut einer Zigarette verstärkte sich kurz, selbst bei diesem Licht war die Intensität von Simons Augen gut zu erkennen.
    »Mag sein«, sagte ich etwas knurrig.
    »Du hast einen Kater. Einen mächtigen Reuekater«, stellte er fest.
    Ich nickte. »Ja, vermutlich.«
    »Ich fühle mich ein bisschen schuldig. Was heißt ein bisschen . Ich bin schuldig.«
    Da musste ich lachen. »Du hast uns nicht gezwungen, unsere Schwänze in die polnischen Nutten zu stecken.«
    »Ich habe euren Widerstand mindestens verringert.«
    Ich zuckte die Schultern, was er vermutlich nicht sehen konnte.
    »So ein paar Tage unter sehr ungewohnten Bedingungen lassen die Realität, die man daheim gelassen hat, in einem anderen Licht erscheinen«, sinnierte er und schnippte die Kippe weg, die einen parabelförmigen Bogen aus Funken durch das Dunkel zog. »Das geht mir nicht anders. Der Gedanke, mein bisheriges Leben fortzusetzen, fällt mir nicht leicht. Diese Fahrt hat etwas Kathartisches.«
    »Kathartisches«, wiederholte ich markmäßig. »Da ist etwas Wahres dran. Ich habe das Gefühl, völlig verändert zu sein. Und mich zu Hause erst wieder in den Menschen zurückfinden zu müssen, der ich war.« In diesem Augenblick bemerkte ich abermals, dass ich an Land ein Schwanken spürte, auf dem Boot aber nie. Eine fast metaphorische Wahrnehmung.
    »Musst du das?«
    »Muss ich nicht?«
    Simon schwieg, wobei er sich eine neue Fluppe anzündete. »Sieh es doch mal so«, sagte er, den Rauch ausatmend und deshalb etwas krächzend. »Betrachte diese zehn Tage als Auszeit von dir selbst. In jeder Hinsicht. Du kannst sicher darauf bauen, dass von uns niemand erfahren wird, was passiert ist oder noch passiert.«
    »Vorausgesetzt, Mark plappert nicht weiter, im Suff und unter Koks.«
    Er lachte höflich. »Ja, das vorausgesetzt. Was ich aber sagen will. Du bist einem Teil von dir

Weitere Kostenlose Bücher