Leiden sollst du
Schultern löste sich auf der linken Seite bereits auf und der Saum wellte sich, da er ausgeleiert war. Seine blaue Trainingshose wies Beulen an den Knien auf. Bestimmt nicht vom Sport, dachte Daniel, sondern eher vom vielen Sitzen auf der Couch. Gereizt kratzte sich Julias Vater an seiner roten Knollennase, ein mögliches, aber kein sicheres Zeichen für Alkoholismus. Seine Haut wies jedoch auch feine geplatzte Äderchen auf. Keine geröteten Augen und kein Tremor. Trinkt regelmäßig, schätzte Daniel, aber kein Komasäufer.
Noch ehe Horst Kranich etwas sagen konnte, schob sich ein junger Mann vor ihn, der zwar dieselben Gesichtszüge aufwies, aber ihn um einen Kopf überragte. „Markus Kranich, Julias Bruder. Sie sind von der Kripo?“
Als Erstes fiel Daniel auf, dass er, anders als sein Vater, noch immer Schwarz trug. Wäre Horst Kranich noch in Trauerkleidung gewesen, hätte er sich nicht gewundert. Doch junge Menschen heutzutage waren weniger religiös und traditionsverbunden und zogen meist schon einen Tag nach einer Beerdigung Alltagskleidung an.
Als Zweites bemerkte er, dass der ältere Mann zwar einen roten Kopf bekam, weil er offensichtlich das Verhalten seines Sohnes, sich vorzudrängeln und das Ruder in die Hand zu nehmen, obwohl er nicht das Familienoberhaupt war, nicht guthieß, aber schwieg. Wären Daniel und er keine Polizisten, hätte er seiner Wut wahrscheinlich Luft gemacht. Horst Kranich strahlte Aggressivität aus. Lag es an seinen kleinen zurückliegenden Augen? Der gedrungenen Gestalt? Oder der dauerhaft gerunzelten Stirn, die Daniel als Skepsis und Abneigung deutete?
Vielleicht hatte sich sein Sohn wohlweislich des Besuchs angenommen, um zu verhindern, dass sein Vater wegen einer unbedachten Bemerkung hochging. Er wirkte jedenfalls weitaus gelassener. Allerdings begrüßte er sie, als wären sie Geschäftspartner, so Daniels Eindruck, und nicht wie Polizisten, die den Tod seiner Schwester untersuchten. Seltsam distanziert, zu souverän, zu wenig betroffen. War er bemüht, die Haltung zu wahren, um nicht in Tränen auszubrechen?
„Oberkommissar Tomasz Nowak.“ Er zeigte seine Kriminalmarke und seinen Dienstausweis.
Doch Markus Kranich ignorierte sie und schaute stattdessen starr auf Daniel herab. „Ich erinnere mich an Sie. Nicht aber an Ihren Kollegen.“
„Hauptkommissar Daniel Zucker“, stellte sich Daniel mit fester Stimme vor. Dadurch, dass er im Rollstuhl saß und zu allen aufsehen musste, hatte er den Eindruck, doppelt so selbstbewusst auftreten zu müssen, um ernst genommen zu werden. Ob das jedoch nur ein Hinweis auf seine eigene Unsicherheit war oder ob die Menschen ihn wirklich nicht für voll nahmen, dazu fehlten ihm noch die Erfahrungswerte, immerhin traute er sich erst seit Kurzem öfter aus seinem Schneckenhaus heraus.
Skeptisch musterte Kranich den Rolli. Vermutlich hatte er noch nie einen querschnittsgelähmten Polizisten gesehen und fragte sich, ob Daniel überhaupt einer war. „Wo sind Ihre Marke und Ihr Ausweis?“
Tom öffnete seinen Mund, um Daniel zu Hilfe zu eilen, denn dieser hatte beides während seiner langen Krankheitsphase abgeben müssen, aber Daniel brauchte keine Unterstützung, denn er antwortete kaltschnäuzig: „In der Rückentasche meiner Krüppel-Harley. Warten Sie, ich stehe eben auf und hole sie heraus.“
Er machte keine Anstalten, sich herumzudrehen, sondern verschränkte provokant seine Arme und erwiderte Kranichs Blick. Wenn dieser darauf bestand, dass er sich auswies, war Daniel geliefert!
29
Markus Kranichs harte Miene bröckelte und er zeigte beinahe so etwas wie ein Lächeln. Er drängte seinen Vater zurück und ließ Daniel und Tomasz hinein. „Sind wir nicht alle auf die eine oder andere Art beschädigt?“
Daniel fand diese Bemerkung schräg, aber wahrscheinlich spielte Kranich damit auf seinen eigenen schmerzlichen Verlust an oder wollte schlichtweg einlenken. In seiner Gegenwart sagten die Menschen aus Verlegenheit die seltsamsten Dinge, weil sie unsicher waren, wie sie sich verhalten sollten.
Unrecht hat er nicht, dachte Daniel, als er – wie hatte Maja ihn noch genannt? – in seinem Popo-Ferrari an ihm vorbeirollte. Genau genommen schien er sogar eine besondere Beobachtungsgabe zu besitzen und tiefsinnig zu sein. Selbst ein Mensch, der so perfekt aussah und auftrat wie Marie, trug Narben auf seiner Seele und verbarg sie vor der Welt, bis etwas geschah, das ihn aufbrechen ließ, sodass er sich offenbarte. Das
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