Leiden sollst du
des unerwarteten Ausbruchs zusammen, aber äußerlich ließ er sich nichts anmerken. „Vielleicht sind Sie ihm nicht bewusst begegnet, sondern er könnte im Hauseingang herumgelungert haben.“
Kranich kam so abrupt bis zur Kante des Sofas vor, dass diese harmlose Bewegung etwas Bedrohliches ausstrahlte. „Den hätte ich dort weggeprügelt oder einer der Nachbarn. Penner haben hier nix zu suchen! Nein, daran würde ich mich erinnern.“ Provokant ließ er die Knöchel seiner Finger knacken.
„Es gab noch eine Tote, Corinna Backes.“ Tomasz präsentiert ihr Foto auf seinem Handy. „Die Beamtin, die nach dem Verschwinden von Julia ermittelte.“
Die Mundwinkel des alten Kranichs zuckten. Höchstwahrscheinlich war er der Meinung, dass ihr das recht geschah. „Die Schl..., ich meine, die Polizistin war ein einziges Mal hier, kurz nachdem Julia verschwand. Die machte keinen Hehl daraus, dass sie davon ausging, mein Mädchen sei durchgebrannt, weil wir von Hartz IV leben und ich Regeln aufgestellt habe, die die Kinder befolgen mussten. Aber das sind gute Prinzipien. Wären sie betrunken, high oder schwanger nach Hause gekommen, hätte ich ihnen die Flausen schon ausgetrieben.“
Daniel konnte nicht verhindern, dass der aufgeschlitzte Bauch von Corinna Backes vor seinem geistigen Auge auftauchte. Das Bild wurde abgelöst durch die trächtige Ratte, deren Föten neben ihr lagen, zu Brei zertreten. Ihm wurde übel. Der intensive Fleischgeruch, der in der Wohnung hing, machte es noch schlimmer.
„Vater regiert mit strenger Hand, aber nur weil er Wert darauf legt, dass wir nicht auf die schiefe Bahn geraten, das passiert in diesem Viertel leider leicht.“ Markus legte seinen Kopf schief. „Warum glauben Sie, dass alle vier ein und demselben Täter zum Opfer gefallen sind?“
„Darüber dürfen wir keine Auskunft geben.“ Tomasz machte seine Zigarette aus und verstaute seine Schachtel wieder in der Jackentasche.
„Starben sie wie meine Schwester auch schon letztes Jahr, aber die glorreiche Kölner Polizei fand sie erst jetzt, wie Julia?“
„Wir tun unser Bestes.“ Tomasz’ Gelassenheit beeindruckte Daniel.
Er selbst stand kurz davor zu platzen. Niemand im Präsidium ging nach Ablauf seiner Schicht pünktlich nach Hause. Außer die Personalabteilung wahrscheinlich , spottete Daniel in Gedanken. Überstunden waren die Regel, nicht die Ausnahme, weshalb viele Ehen scheiterten. Wenn man den Job ausüben wollte, musste man ein hohes Maß an Idealismus mitbringen, neben seiner normalen Arbeit auch für Bereitschaft, Not-, Groß- und Sondereinsätze zur Verfügung stehen und verdiente beispielsweise in der freien Wirtschaft weitaus mehr, zumal das Ansehen des Berufs gesunken war. Man wurde beschimpft, bespuckt und angegriffen, riskierte sogar sein Leben für das Allgemeinwohl und bekam nie Dank dafür. Und trotzdem war es das, was Daniel machen wollte, was ihn glücklich und zufrieden machte!
„Das scheint nicht viel zu sein.“ Während Markus Kranich sprach, rieb er seine Handflächen aneinander. „Die Kriminalstatistik zeigt, dass die Aufklärungsquote immer weiter zurückgeht. Von sechs Millionen Straftaten wurden im vergangenen Jahr nur 54,7 Prozent aufgeklärt, im Jahr davor waren es 56 Prozent. Dem Polizeiapparat wird aber immer mehr Geld in den Arsch geblasen, las ich.“
Da hatte sich aber jemand eingehend mit dem Thema beschäftigt. Daniel zog die Augenbrauen hoch und warf Tom einen genervten Blick zu. Das klang ja fast, als wollte Kranich junior durch die Blume sagen: Ich kann nachvollziehen, wenn jemand ein Verbrechen begeht, denn die Gefahr, überführt zu werden, liegt bei etwa fünfzig zu fünfzig. Im ersten Moment regte sich Daniel über diesen Vorwurf, sie würden ihrer Arbeit nicht akribisch genug nachgehen, auf. Im zweiten merkte er sich die Zahlen, um sie Voigt demnächst um die Ohren zu schlagen, denn sie bewiesen, dass jeder gute Mann gebraucht wurde – und er war gut.
„Verbrechen kann nur mit exzellent ausgebildetem, qualifiziertem Personal bekämpft werden“, sagte Tomasz unbeeindruckt und zuckte mit den Schultern. „Das kostet nun mal.“
Mit gerümpfter Nase blickte der junge Kranich auf den Rollstuhl. Vielleicht dachte er in diesem Moment, dass einige Polizisten den Staat mehr kosteten als andere, oder bezahlt wurden, obwohl sie die Leistung nicht zu hundert Prozent erbringen konnten. „Diese Bestie läuft seit einem Jahr frei herum. Und sie tötet munter weiter, das ist
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