Leiden sollst du
konnte den Job aber nicht mehr ausüben. Bandscheibenvorfall mit dreiundvierzig. Seitdem ist er arbeitslos.“ Tomasz drückte auf die Acht, lehnte sich gegen die Kabinenwand und beobachtete, wie sich die Tür schloss.
„Und seine Frau?“
Ruckelnd setzte sich der Lift in Bewegung. „Ewa war Polin, kam aber schon mit sechs Jahren zusammen mit ihren Eltern nach Deutschland.“
„War?“
„Nachdem Julia letztes Jahr verschwand, gaben sich Ewa und Horst gegenseitig die Schuld und trennten sich im Herbst.“
„Aber das ist nicht alles, habe ich recht?“, fragte Daniel und kraulte seinen Bart.
„Leider nein. Ewa Kranich verkraftete den Verlust ihrer Tochter nicht und erhängte sich Mitte Dezember in einem schicken Marketingbüro, in dem sie abends, wenn alle Angestellten nach Hause gegangen waren, putzte. Als die Empfangssekretärin am Morgen an ihren Arbeitsplatz kam und die Leiche, die von der Decke baumelte, fand, fiel ihr der Coffee-to-go-Becher aus der Hand, sie rief die 110 an und regte sich“, Tom schnaubte, „geschlagene fünf Minuten darüber auf, wie jemand so gedankenlos sein konnte, sich in einem öffentlichen Gebäude das Leben zu nehmen, damit hätte sie ihr das ganze Weihnachtsfest versaut.“
Daniel schüttelte über so viel Ignoranz den Kopf. Wie sehr musste Ewa Kranich gelitten haben! Doch gleichzeitig kamen Zweifel in ihm auf. „Hat die Gerichtsmedizin den Suizid nachgewiesen?“
Tom runzelte seine Stirn. „Ja, wieso fragst du?“
„Routine“, antwortete Daniel ausweichend. Noch immer erachtete er es als möglich, dass Julia ebenfalls mit dem Patron Geocaching gespielt hatte. Es wäre möglich gewesen, dass sie einige Schatzkisten nicht gefunden und ihre Mutter dafür mit ihrem Leben bezahlt hatte. Aber hätte der Patron es wie einen Selbstmord aussehen lassen? Das passte nicht zu seinem Profil. Als Heide Mannteufel angefahren worden war, hatte es jedoch auch nach einem normalen Unfall mit Fahrerflucht ausgesehen. Und sollte er Maik Hagedorn die Drogen unbemerkt zugesteckt haben, sodass dieser am Flughafen verhaftet worden war, wäre das auch Bestätigung dafür, dass GeoGod seine Attacken manchmal tarnte. Daniel musste die Indizien prüfen, aber das würde sehr schwer werden. Die Zeit lief gegen ihn, der Patron hinterließ bisher keine Spuren und Daniel standen nicht mehr die Möglichkeiten zur Verfügung, die er beim KK 11 gehabt hatte.
Jetzt wusste er auch, warum Julias Mutter auf ihrem Begräbnis gefehlt hatte. Als die Wasserleiche des Mädchens gefunden worden war, lag Ewa Kranich längst unter der Erde. „Und Markus Kranich?“
„Er hat sich immer um alles gekümmert, war die Schnittstelle von uns zur Familie, damals als Julia verschwand wie auch heute, wo wir wegen Mordes ermitteln. Ein aufgeweckter Bursche, wenn du mich fragst, allerdings auch ein wenig zu gespielt tough. Das hat er wohl im Ghetto gelernt. Allerdings ist er nicht so ein harter Hund, wie er vorgibt zu sein.“ Der Aufzug öffnete sich und Tomasz ließ Daniel den Vortritt. „Er hat seine Schwester über alles geliebt, sie standen sich wohl sehr nah. So wie er aussagte, war ihr Verhältnis zueinander inniger als zu den Eltern, weshalb er ihr ab und zu heimlich Geld für Kleidung gab und ihr ein Smartphone kaufte. Jedenfalls verlor er im Herbst seinen Job und kurz darauf auch seine Freundin. Nachdem Julia vom Erdboden verschwand, ging sein Leben den Bach runter. Der Kummer fraß ihn innerlich auf, vermutlich war ihm alles scheißegal, so sehe ich das, aber inzwischen hat er sich wieder im Griff.“
Daniel nickte. Im ersten Moment war es für viele Hinterbliebene schlimm, wenn die Leiche eines Vermissten gefunden wurde. Aber es lag auch ein gewisser Trost darin, endlich Gewissheit zu haben, und die Bestattung wurde oft als Endpunkt angesehen, um abzuschließen und neu beginnen zu können.
Forsch klingelte Tom an der Tür. Entweder hatte er die Kranichs schon einmal aufgesucht oder jemand hatte ihm beschrieben, an welche Wohnung er sich wenden musste, denn es gab weder Namensschilder noch dekorative Gegenstände. Keine Schmutzfangmatten, keine Aufhänger, keine Blumen, keine Schuhe, Kinderwagen oder Spielsachen. Nichts. Nur das Plärren des Fernsehers der Nachbarn beschallte das Treppenhaus, ansonsten hätte man auch glauben können, die Etage wäre verlassen.
Das Erste, was Daniel dachte, als Horst Kranich ihnen öffnete, war: Konnte er sich kein T-Shirt ohne Löcher anziehen? Die Naht auf seinen
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