Leiden sollst du
konnte etwas Gutes, aber auch etwas Schlechtes bedeuten. Daniels Kreuz sah man ihm im Gegensatz zu dem seiner Ehefrau, die in jungen Jahren von ihrer Mutter auf subtile Weise gequält worden war, an. Doch die wenigsten Menschen ahnten, dass er nicht nur ein körperliches Defizit hatte, sondern auch von den Dämonen aus seiner Kindheit verfolgt wurde.
Unauffällig schaute sich Daniel im Wohnzimmer, in das sie gebeten wurden, um. Löcher in der Tapete gaben den Blick auf das Blümchenmuster vergangener Tage frei. Die Stickgemälde mussten noch von Ewa Kranich stammen, ebenso wie die Plastikveilchen, auf denen sich der Staub sammelte und Fäden von einer Blüte zur anderen gewoben hatte. Das Sofa war durchgesessen und schmutzig und Daniel war froh, dass er sich nicht daraufsetzen musste, wie Tomasz es just aus Höflichkeit tat.
Offensichtlich hatte Horst Kranich die Wohnung so gelassen, wie sie war, nachdem seine Frau ausgezogen war, aber vermutlich nicht, weil er nicht loslassen konnte oder hoffte, sie käme eines Tages zurück, sondern aus Trägheit, denn sonst hätte er zumindest renoviert. Er erweckte nicht den Eindruck, ein Mann der Tat zu sein.
Auf dem Couchtisch stand ein riesiger Aschenbecher mit einem Werbelogo, er quoll über vor Kippen. Angewidert leerte ihn Markus Kranich in der Küche aus. Vermutlich wohnte er nicht mehr hier, auch weil er sich nur auf die Sessellehne setzte und nicht in den Sessel, als würde er sich genauso davor ekeln wie Daniel.
Jetzt, wo er saß, nahm Daniel erst wahr, dass er genauso einen Stiernacken und einen Bauchansatz hatte wie sein Vater, nur fielen sie durch seine Größe weniger auf und waren noch nicht ganz so ausgeprägt.
Horst Kranich ließ sich auf das Sofa fallen, breitbeinig und selbstgefällig wie ein Pascha, und steckte sich eine Zigarette an. Sogleich holte auch Tom seine Schachtel heraus, aus Taktik, wie Daniel wusste, um sich zu solidarisieren und das Eis zu brechen. Es funktionierte, denn der alte Kranich gab ihm Feuer und lehnte sich etwas entspannter zurück. Sein Schweigen deutete Daniel keineswegs als Schüchtern- oder Introvertiertheit, sondern eher, als würde er sich mühsam zurückhalten, um nicht zu explodieren, weil man ihn belästigte.
Eigentlich kamen sie, um neue Fragen zur laufenden Ermittlung um Julia zu stellen. Daher wunderte sich Daniel, dass sie nicht voller Neugier und Hoffnung empfangen wurden. Aber wahrscheinlich betrachteten die beiden verbissenen Männer jeden Besucher als Eindringling. In einer Gegend wie dieser wurde man unweigerlich misstrauisch jedem Fremden gegenüber.
„Es tut uns leid, Sie noch einmal behelligen zu müssen“, begann Tomasz behutsam und blies den Rauch aus seinen Lungen, sodass er in diesem Moment nicht wie ein Kommissar wirkte, sondern wie ein Bekannter, der auf einen Freundschaftsbesuch gekommen war. „Aber wir müssen Ihnen noch einige Fragen stellen.“
„Warum zum Henker?“ Als Horst Kranich sich nach vorne neigte, um abzuaschen, musste er seine Beine spreizen, damit sein Bauch dazwischenpasste und er an den Tisch herankam. „Das ist doch immer wieder dasselbe Zeug. Wir sind doch keine Kühe, die ständig alles wiederkäuen. Es kotzt mich an. Das bringt doch nichts. Bis jetzt habt ihr das Schwein nicht gefunden und das werdet ihr auch nicht. Ich sag nichts mehr. Nachher beschuldigt ihr mich wieder. Oder Markus. Aber vor allen Dingen mich. Selbst den Hausmeister hattet ihr im Verdacht. Nur weil ihr keinen Durchblick habt. Verdächtigt Hinz und Kunz, in der Hoffnung, zufällig den Richtigen zu erwischen. Aber ich halte ab jetzt die Schnauze, sonst sitze ich nachher noch im Knast.“
„Neunzig Prozent der Verbrechen sind Beziehungstaten, daher untersuchen wir routinemäßig auch die Verhältnisse innerhalb der Familie.“ Damit Kranich bequemer abaschen konnte, hielt Tomasz ihm den Aschenbecher hin. Dessen Dank klang wie ein Murren. „Deshalb sind wir aber heute nicht hier.“
„Sondern weil neue Ermittlungsergebnisse vorliegen, nicht wahr?“ Selbstgefällig grinste Markus Kranich.
Daniel sah Tom an, wie er mit sich rang. Eigentlich wollte er so wenig wie möglich preisgeben. „Darüber dürfen wir nicht sprechen.“
„Es geht um den Mord an meiner Schwester!“ Kranichs Grinsen verschwand. Von einer Sekunde auf die andere wurde sein Gesicht zu einer wütenden Fratze und er ähnelte seinem Vater mit einem Mal sehr. „Und Sie wollen uns nichts sagen?“
„Die Ermittlungen laufen noch.“
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