Leise Kommt Der Tod
großen Brüste stets unter ihrer ausgefallenen Kleidung hin und her; ob das nun eine kunstvoll bestickte Robe aus Guatemala war oder ein bunt bedrucktes T-Shirt, wie es Teenager anhaben. Jeanne hatte ein Faible für Wein, daher reiste sie einmal im Jahr in das Weinbaugebiet Loire oder in eine andere Weingegend. Was das Essen anbetraf, war sie allerdings nicht so wählerisch. Ihr Mittagessen bestand oft aus Chips oder Pasta. Jedenfalls war sie eine engagierte Lehrerin und eine ernsthafte Wissenschaftlerin, und obgleich Sweeney ihre feministische Einstellung ein bisschen übertrieben fand, stimmten sie in vielen Dingen überein. Jetzt blickte sie Sweeney erwartungsvoll an, als ob sie auf Zustimmung warten würde, bevor sie ihre Bitte aussprach.
»Einen Gefallen? Könnten wir vielleicht etwas später darüber sprechen? Ich bin gerade ziemlich in Eile. Willem möchte sicher gleich sehen, was ich...«
»Willem!«, schnaubte Jeanne. »Du solltest ihm endlich klarmachen, dass du hier die Kuratorin bist und dir seine Bevormundung auf die Nerven geht. Wenn du ein Mann wärst, würde er dir nicht ständig über die Schulter sehen und jedes Detail wissen wollen. Er würde einfach darauf vertrauen, dass deine Ausstellung aussagekräftig ist.«
»Meinst du? Ich mache jetzt wohl besser weiter. Schick mir eine Erinnerung per E-Mail, dann können wir einen Termin ausmachen, um …«
Jeanne schnitt ihr erneut das Wort ab. »Weißt du was? Er hat versucht, meine Ausstellung abzusagen, nachdem er herausgefunden hat, dass sie ein paar pornografische Exponate beinhaltet! Wenn man irgendjemanden auf der Straße fragen würde, ob er der Meinung ist, dass an der Universität akademische Freiheit existiert, wäre die Antwort mit Sicherheit Ja. Aber in Wahrheit lautet sie Nein! Du weißt das genauso gut wie ich. Bitte hilf mir und mach dich zusammen mit mir gegen ihn stark.« Sie strich ein paar blonde Korkenzieherlocken hinter das Ohr. »Die weiblichen Fakultätsmitglieder sollten eine Gruppe gründen und dagegen protestieren, wie er uns behandelt. Dann wird er es nicht mehr wagen, meine Ausstellung abzublasen. Und auch deine Arbeit wird er nicht mehr ständig kontrollieren. Stell dir das nur mal vor!«
»Eigentlich ist es kein Kontrollieren«, erwiderte Sweeney. »Ich denke, er interessiert sich einfach nur für mein Projekt.«
»Oh, da ist ja Tad. Mit ihm muss ich auch unbedingt sprechen«, rief Jeanne in diesem Moment so laut, dass ihre Stimme durch das gesamte Stockwerk hallte. Sweeney sah über das Geländer und erblickte Tad Moran, der in seiner charakteristischen verhuschten Art durch den Innenhof eilte, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Der Ärmste. Vermutlich versuchte er, eine Begegnung mit Jeanne zu vermeiden.
Sweeney dachte schon, sie sei jetzt erlöst, als Jeanne plötzlich sagte: »Ach ja, der Gefallen. Die WAWAs brauchen einen Studienberater, und ich habe mir überlegt, dass du perfekt für den Posten geeignet wärst. Es sollte jemand Jüngeres sein, weißt du. Mich halten sie nämlich für eine alte Schachtel aus einem anderen Zeitalter. Ich gebe ihnen das Gefühl, dass Feminismus nicht mehr zeitgemäß ist. Aber jemand in deinem Alter könnte die Frauen wirklich ermutigen, all die Dinge anzugehen, die an diesem Campus dringend getan werden müssen.« Jeanne lief rückwärts die Treppe hinunter, während sie redete, und dabei wurde ihre Stimme immer lauter. Sweeney
stockte schon vom Zusehen der Atem, sie rechnete jeden Moment damit, die Kollegin würde rücklings die Treppe hinunterfallen.
Die WAWAs waren eine Frauengruppe auf dem Campus, an den genauen Wortlaut der Abkürzung konnte Sweeney sich nicht erinnern. »Wut im Anmarsch - weibliche Aktion«, irgendetwas in dieser Richtung. Sie hatte vor ihrem Bachelor an ein paar Versammlungen teilgenommen, und einmal auch an einer Kundgebung. Sie erinnerte sich lebhaft daran, wie bei dieser Veranstaltung verschiedene Frauen aufgestanden waren und die Namen von Männern aus ihrem Bekanntenkreis ausgerufen hatten, von denen sie vergewaltigt worden waren. Sweeney selbst hatte sich dort sehr unwohl gefühlt. Doch außer ihrem besten Freund Toby hatte sie damals niemandem davon erzählt.
»Also darf ich dich vorschlagen?«, tönte Jeannes Stimme vom Treppenabsatz.
»Ich muss erst mal in Ruhe darüber nachdenken«, rief Sweeney zurück, unsicher, ob ihre Antwort bis zu Jeanne vorgedrungen war.
In den Galerien war das Personal damit beschäftigt, die Vorbereitungen
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