Leise Kommt Der Tod
befreit.
Tim Quinns Blick wanderte erneut zum Ende des Gedichtes.
All unsre Kraft rolln wir und all
Unser Süßes zu einem einzigen Ball:
Und zerren unsre Lust zu zweit
Durchs Lebenstor in rauem Streit.
Wir hemmen nicht den Sonnenfuß,
doch machens, dass er laufen muss.
Er grinste. Jetzt hatte er es endlich kapiert. Dieser Typ, also der Verfasser der Verse, versuchte seine Freundin zu überreden, mit ihm zu schlafen. Da die Zeit nur so dahinflog, sollten sie sich besser beeilen, bevor sie tot seien. Quinn war sich nicht sicher, was der Typ mit »Süßes« meinte oder mit »durchs Lebenstor in rauem Streit«. Es hatte den Anschein, als beschützte das Tor die Frau. Oder vielleicht … vielleicht war das Tor selbst die Frau … Dieser Marvell war ganz schön versaut. Er verwendete Wörter, die für gewöhnlich schöne, romantische Dinge beschrieben, und dabei wollte er die Frau nur ins Bett bekommen.
Er legte das Buch beiseite. Eine Sache war ihm aufgefallen:
Viele Gedichte lasen sich sehr kompliziert, handelten letztendlich aber nur von alltäglichen Dingen, die auch normale Menschen bewegten. Es kam vielmehr darauf an, wie es gesagt wurde, und das machte sie entweder zu Literatur oder zu einem gewöhnlichen Gespräch zwischen einem Mann und seiner Freundin.
Tim Quinn hatte sich vor einigen Wochen in einen Kurs für englische Literatur eingeschrieben. Immer noch überkam ihn ein Schauer, wenn er das Textbuch aufschlug und sein Blick auf die vielen Wörter fiel, mit denen die dünnen Seiten bedruckt waren. Diese Fülle erschlug ihn förmlich. Es war so, als ob in dieses Buch die größte mögliche Menge an Literatur gepresst worden war. Und ihm standen alle Möglichkeiten offen. Es existierten so viele Wörter, und er konnte sie alle lesen, wenn er wollte. Es war eine Art … wie lautete doch gleich das Wort? Offenheit traf es vielleicht am besten, dieselbe Art von Offenheit, die ihn erfüllte, wenn er am Dienstagabend seinen Kurs besuchte. Vorausgesetzt, dass ihn nicht gerade ein neuer Fall davon abhielt und dass Patience, die Babysitterin seiner Tochter, zur Verfügung stand. Dann betrat er den Klassenraum, setzte sich und sah in eine große Zukunft. Seine große Zukunft.
»Wie bitte, willst du jetzt etwa Englischlehrer werden?«, hatte Havrilek gefragt, als Quinn ihm von dem Kurs erzählt hatte. Quinn glaubte zwar nicht, dass das wirklich eine Option für ihn wäre, aber er fand allein schon die Möglichkeit aufregend. Dabei dachte er an all die anderen Berufe, die er ausüben könnte: Chefkoch, Anwalt, Kapitän eines Schiffes. Er hatte keine Ahnung, warum er das tat. Im Grunde war er sehr gerne Polizist. Er vermutete, dass es um das Gefühl von Freiheit ging, das einem Alternativen vermittelten. Deshalb besuchte er den Literaturkurs - er fühlte sich dadurch frei.
In diesem Moment wurde die Tür seines Hondas aufgerissen, und Detective Ellie Lindquist steckte ihren Kopf herein. »Bist du so weit?«, fragte sie. Quinn hatte die Mittagspause
genützt, um im Auto Papierkram zu erledigen, während Ellie bei Starbucks auf dem Central Square die Zeitungen las. Nun mussten sie wieder zurück zur Arbeit. Quinn warf den Gedichtband auf den Rücksitz, Ellie stieg ein und steckte einen riesigen Pappbecher in Quinns Getränkehalter. Sie liebte die Eigenkreationen von Starbucks, die eher wie Süßigkeiten als wie Kaffee schmeckten. Er nahm den Duft wahr, der dem Becher entströmte: Vanille, Karamell und Milch. Draußen war es heiß, viel zu heiß für Kaffee, und er wollte sich schon erkundigen, wie sie es schaffte, bei diesen Temperaturen so etwas zu trinken. Da bemerkte sie, wie er den Becher anstarrte, und fragte: »Soll ich dir auch einen holen?«
Quinn versuchte, nicht zu entrüstet zu klingen, als er eilig versicherte: »Nein, nein. Wirklich nicht. Wir sollten uns jetzt besser auf den Weg machen.« Sie schob eine dunkelblonde Haarsträhne hinter das Ohr und sah zur Seite, als ob er sie persönlich verletzt hätte. Ellie hatte feine Gesichtszüge und konnte ihre Gefühle nur schlecht verbergen. Ob sie fröhlich, traurig oder wütend war, konnte man deutlich an ihren großen blauen Augen und ihren schmalen Lippen ablesen. Es schien, als ob sie keine Macht über ihr Mienenspiel hätte.
Er konnte nicht sagen, warum sie ihn so irritierte. Seit Marino sich seinen Rücken verletzt hatte und vorzeitig in den Ruhestand gegangen war, hatte er ohne Partner gearbeitet. Es hatte ihm gefallen, mit wechselnden Kollegen zu
Weitere Kostenlose Bücher