Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leise weht der Wind der Vergangenheit

Leise weht der Wind der Vergangenheit

Titel: Leise weht der Wind der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarit Graham
Vom Netzwerk:
Rhododendronzweige in die schwarzen Locken, dann neigte er sich zu dem toten Kind hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann erhob er sich.
       Anne schaute zu ihm auf. Ihr Blick war verklärt und ihre Gedanken schienen sich jenseits der Wirklichkeit zu befinden. Langsam erhob auch sie sich. Da entdeckte sie die Puppe, die sie achtlos auf den Boden gelegt hatte. Sie hob sie auf und legte sie zwischen die beiden toten Mädchen. Dann nahm sie Joshuas Hand, und schweigend verließen die Kinder die Höhle.
       Ehe sie jedoch ins Tageslicht hinaustraten wandten sie sich noch einmal um. Lange blickten sie zurück, und es hatte den Anschein, als wollten sie Abschied nehmen von den toten Körpern.
       Als sie nach draußen traten, trug der Wind die schwermütige Melodie einer einsamen Flöte auf seinen Schwingen daher. Sie umschmeichelte Annes und Joshuas Sinne, sodass sie gar nicht mehr in die Wirklichkeit zurückkehren wollten.
       Gleichzeitig blickten die Kinder nach oben. Bizarr hoben sich die Klippen gegen den blutroten Himmel ab. Die wunder-schöne Melodie vermischte sich mit dem Rauschen des Meeres und verhallte schließlich in der Unendlichkeit des Horizonts.
       „Heute tanzen sie nicht", sagte Anne und lächelte. Josh lächelte zurück. „Heute nicht", antwortete er geheimnisvoll und blickte wieder nach oben. „Sie werden erst wieder tanzen, wenn wir alle beisammen sind. Dann wird sich das Schicksal erfüllen.“
       Anne trat einen Schritt nach vorne auf den Abgrund zu. Sie starrte nach unten. Ein Sturz von hier oben hätte ihren sicheren Tod bedeutet.
       In diesem Moment kam Josh zu sich. Er griff nach ihrer Hand und riss sie zurück. „Anne, nicht!“, schrie er entsetzt auf. „Jetzt noch nicht." Er nahm sie in die Arme und hielt sie ganz fest.
       Plötzlich begannen beide zu schluchzen.
                              * * *
       Mary McCarson saß an ihrem kleinen Frisierspiegel und betrachtete sich nachdenklich. Sie spürte genau, dass sie im Begriff war, sich nicht nur innerlich sondern auch äußerlich zu verändern. War es die Liebe, die in den letzten Tagen eine blühende Frau aus ihr gemacht hatte, ein Strahlen in ihre Augen zauberte, das mit nichts auf dieser Welt zu vergleichen war?
       Sorgsam löste die junge Frau die Spange, mit der sie ihre langen Haare im Nacken zusammenhielt. Es war ein langer Tag gewesen, denn heute, am Donnerstag, hatte sie von Morgens bis zum Nachmittag Unterricht abgehalten.
       Mary lächelte sich selbst zu und lehnte sich ein wenig zurück. Dann verschränkte sie die Arme im Nacken und ließ ihre Gedanken wandern.
       Was war alles geschehen, seit sie nach Ronaldsburgh gekommen waren? Kein Stein ist mehr auf dem anderen, hätte ihr Vater wohl gesagt, wenn er noch leben würde. „Ach Dad", Mary seufzte auf. Wie sehr fehlten ihr die Eltern jetzt, mehr als je zuvor. In ihren Gedanken war wieder Matthew, der schon seit einiger Zeit den wichtigsten Platz in ihrem Herzen einnahm. Ihre Liebe zu ihm verdrängte manches Mal sogar ihre großen Sorgen um Anne. Die kleine Schwester war nur noch ein Schatten ihrer selbst, und auch ihr Wesen hatte mit dem Kind von einst fast nichts mehr gemeinsam.
       Seufzend öffnete Mary die Augen wieder. Es verging kaum eine Stunde, in der sie nicht zumindest einmal daran dachte, dass es hieß, von Anne Abschied zu nehmen. Sie blickte in den Spiegel, weil sie ein Geräusch gehört hatte.
       Langsam wurde die Tür geöffnet, und als erstes entdeckte Mary ein Stückchen Tüll, dann trat Anne ein, das lange Haar geöffnet, sodass es bis weit über ihre mageren Schultern fiel wie ein Trauerschleier, und in ihren Augen einen überirdischen Glanz, der ihren ganzen Körper einzuhüllen schien. Sie wirkte noch zerbrechlicher als sonst.
       Mary hatte das Gefühl, vor Entsetzen gleich in Ohnmacht zu fallen. Sie wagte kaum zu atmen, weil sie ahnte, was gleich geschehen würde.
      Jetzt veränderte sich Annes Gesicht, so wie damals auf dem Rücksitz des Wagens, als sie nach hier gefahren waren. Die Erscheinung dauerte jedoch nur einen kurzen Moment und verschwand ebenso unverhofft, wie sie gekommen war.
       „Ich wollte dich nicht erschrecken, Mary." Annes Stimme vibrierte vor Aufregung. „Ich würde unendlich gern wieder tanzen." Sie trat vollends ins Zimmer und drehte sich wie eine kleine Balletteuse im Rampenlicht. Ihre blassen Lippen lächelten selbstvergessen.
       „Hast du etwas

Weitere Kostenlose Bücher