Leise weht der Wind der Vergangenheit
in das Land jenseits des Fassbaren. Auf einer bizarr geformten Klippe saß eine schöne Frau mit langen schwarzen Haaren, und sie streckte ihm sehnsüchtig beide Arme entgegen. „Komm zu mir, mein Kind", sagte sie sanft, und ihre Stimme vibrierte vor Glück. „Wir warten schon auf dich. Viel zu lange waren wir getrennt.“
Ein ungeheueres Glücksgefühl erfüllte Josh. Einen Moment lang zögerte er noch und starrte die Frau an. Ihr Gesicht war ihm so vertraut wie kein anderes. Er wusste, dass es Britta war, die Frau, die er auf dem Bild gesehen hatte. Neben ihr saß ein hübsches kleines Mädchen mit langen schwarzen Haaren, das nun ebenfalls die Hände nach ihm ausstreckte. Er erkannte - Anne -. Und in diesem Moment rannte er los...
* * *
„Kannst du wirklich eine Weile allein bleiben, Anne? Ich verspreche dir auch, dass wir nicht lange fortbleiben." Mary betrachtete ihre kleine Schwester besorgt. Sie hatte sich in den fünf Monaten, die sie nun schon in Ronaldsburgh lebten, ziemlich verändert, war, wenn überhaupt möglich, noch blasser, noch durchscheinender geworden, und was Mary auch auf den Tisch brachte, Anne hatte keinen Appetit. Sie würde keinen Bissen hinunterbekommen, behauptete sie und bat doch gleichzeitig, Mary möge sich keine Sorgen um sie machen. Dabei war sie nur noch Haut und Knochen.
„Genieße den Abend, Schwesterchen", sagte Anne lächelnd und hauchte Mary einen Kuss auf die Wange. „Ich werde zu Bett gehen und ein bisschen träumen." Ein verklärtes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Es ist so schön zu träumen, findest du nicht auch?“
„Pass auf dich auf, Darling." Liebevoll strich Mary ihr über die Wange. „Öffne niemandem die Tür, hörst du?" Spielerisch drohte sie mit dem Zeigefinger. „Es könnte der böse Wolf draußen stehen.“
Nach einem abschließenden Blick in den Spiegel verließ sie das Haus. Im Schein des Mondes, der wie ein heller Ball über dem Meer hing, erkannte sie Matthew, der wenige Schritte entfernt auf einer halb verfallenen Mauer saß und ihr entgegenzustarren schien. Noch heute morgen hatte sie nicht gewusst, dass sie sich heute Abend treffen würden. Er habe ihr etwas Wichtiges mitzuteilen, hatte er ihr durch einen ihrer Schüler ausrichten lassen. Und als sie schnell zum Fenster gelaufen war, um ihm zuzuwinken, da hatte sie nur noch die Rücklichter seines Wagens gesehen.
„Matthew, was ist geschehen?" Leichtfüßig lief sie auf ihn zu. „Es scheint ja besonders wichtig zu sein.“
„Wie schön du bist, Mary." Er legte seine beiden Hände an ihre Wangen und strich dabei mit den Zeigefingern ihre Haare ein wenig zurück. „Ich hatte schon ganz vergessen, wie du aussiehst.“
„Jetzt sollte ich beleidigt sein." Gespielt verärgert versuchte sie sich aus seinem Griff zu entwinden. Doch er ließ sie nicht los. „Ich möchte, dass wir zu den Klippen gehen", sagte er wenig später und nahm ihre Hand.
Mary widersprach nicht. Sie hob ihr Gesicht dem Wind entgegen und genoss es, die salzigen Tropfen auf ihrer Haut und ihren Lippen zu spüren. Es dämmerte bereits, und das fahle Licht des Mondes, der schon seit dem späten Nachmittag am Himmel hing, tauchte die Umgebung in ein unwirklich scheinendes Licht.
„Trotz allem bin ich glücklich", sagte Mary leise, ohne ihn anzusehen. „Ich werde Anne verlieren, und trotzdem bin ich glücklich. Kannst du das verstehen? Ich habe das Gefühl, als hätte alles, was geschieht, seine Richtigkeit.“
Matthew antwortete nicht. Ganz fest hielt er ihre Hand und dachte über irgendetwas nach. „Ich war bei Lady Jane", sagte er nach einer Weile. „Sie lebt jetzt in einem Altersheim. Man fährt sie mit einem Rollstuhl durch den Park. Doch ihre Sinne hat sie noch immer beisammen", fügte er hinzu.
„Was willst du mir damit sagen?" Mary warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Du hast etwas herausbekommen.“
Sie waren bei den Klippen angekommen. Eintönig rauschte das Meer tief unten, und der betörende Duft der blühenden Grasnelken ließ sie den Sinn für die Wirklichkeit verlieren. Schweigend setzten sie sich auf einen der Felsen und starrten auf die schimmernde Oberfläche des Wassers hinab. Der Wind war angenehm kühl nach einem warmen Spätsommertag. Er brachte die ersten Anzeichen des nahenden Herbstes mit sich mit seinem eigentümlichen Duft nach sommerlicher Glückseligkeit und
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