Leise weht der Wind der Vergangenheit
Rhododendronbüsche eine einsame Frau. Ihre langen schwarzen Haare hingen weit über ihre schmalen Schultern herab und auf ihrem schönen Gesicht lag ein liebevolles Lächeln. Es schien, als würde sie von innen heraus leuchten.
Ein plötzlicher Windstoß riss an ihrem langen weißen Kleid und verwischte die Konturen. Langsam begann sie sich aufzulösen...
* * *
„Lass uns noch einige von diesen Grasnelken pflücken. Sie sehen wunderschön aus mit den weißen Blumen dazwischen." Anne betrachtete ihren kleinen Strauß, den sie in der linken Hand hielt. „Schau nur, Josh, Britta gefällt er auch." Sie trug im Arm ihre heißgeliebte Puppe, die sie heute sorgfältig in ihren warmen Schal gehüllt hatte. Ein kühler Wind kam vom Meer, und ein Frösteln ließ Anne erschaudern.
Josh blickte seine Freundin besorgt an. „Dir ist kalt, Anne. Sollten wir nicht lieber zurückgehen? Wir hätten bei diesem Wetter zuhause bleiben sollen." Er brach einen blühenden Rhododendronzweig ab und betrachtete ihn. „Wofür pflücken wir die Blumen eigentlich?“
„Ich weiß es nicht", antwortete Anne. „Ich spüre nur, dass wir es tun müssen. Und nun gehen wir. Sie warten bestimmt schon." Ihr Blick verklärte sich und sie wandte sich von ihrem Freund ab.
„Wer wartet?“
„Weiß ich nicht." Anne nahm Joshuas Hand und zog ihn mit sich. „Es ist höchste Zeit. Wir sind schon viel zu spät dran.“
Ohne auf den Weg zu achten, kletterten die beiden Kinder zwischen den Klippen hindurch, immer weiter hinunter. Es war kein richtiger Weg, den sie entdeckt hatten, doch die Steine waren so sauber und ordentlich geschlichtet, dass der Abstieg nicht gefährlich war.
Keines von beiden sprach ein Wort. Joshua hielt seine Rhododendronzweige fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten, und mit jedem Schritt, den sie gingen, verwischte sich die Umgebung mehr und mehr, wurde undeutlich und unwirklich. Es war wie in einem Traum, den die beiden gemeinsam erlebten.
Dann standen sie vor dem Höhleneingang. Ein dunkles Loch gähnte sie an, das sie zu verschlingen drohte. Anne jedoch ging unbeirrt weiter. Ganz fest hielt sie Joshuas Hand und führte ihn.
Als sie ein Stückchen ins Innere der Höhle gegangen waren hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Jetzt konnten sie ihre Umgebung wieder erkennen, die aussah wie die Kulisse für einen Märchenfilm. Die Wände waren schnee-weiß, wie mit einer dicken Kalkschicht überzogen. Mit jedem Schritt, den sie weiter in die Höhle vordrangen, wurde es lichter um sie.
Dann entdeckte Anne die vielen abgerissenen Blüten, die auf dem Boden lagen. Fragend blickte sie Josh an, doch der lächelte nur. Da gingen sie einfach weiter.
Schließlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Annes Schritte wurden langsamer, bedächtiger, und Joshua passte sich ihr an. Sie blieben stehen und hielten die Köpfe gesenkt, blickten auf etwas, das zu ihren Füßen sein musste.
Das Mädchen seufzte glücklich auf. „Endlich sind wir da", sagte sie leise und kniete nieder. Joshua tat es ihr nach.
Vor ihnen lagen zwei Mädchen auf dem kalten Gestein. Sie hatten die Augen geschlossen und ihre Wangen waren rosig angehaucht. Fast hätte man glauben können, sie würden nur schlafen, wenn nicht ihr ganzer Körper mit einer feinen Staubschicht bedeckt gewesen wäre wie mit einem Leichentuch aus feinstem Gespinst.
Sie sahen aus wie niedliche Balletteusen in ihren zarten Tüllkleidchen und den glänzenden rosafarbenen Stoffschuhen. Die schlanken Beine wurden von weißen Netzstrümpfen bedeckt.
Eines der Mädchen hatte kurze schwarze Locken, die sich vorwitzig auf der Stirne kringelten. Das andere Mädchen umgab die Flut langer schwarzer Locken, die bis weit über die Schultern reichte.
Anne griff nach der Hand des langhaarigen Mädchens. „Annabel", flüsterte sie. „Endlich habe ich dich wieder, Annabel." Noch immer hielt sie die Hand des toten Kindes in der ihren, als wollte sie sie wärmen. Das Sträußchen mit den Grasnelken legte sie in Annabels Finger und fügte diese zu einer Faust. Als sie sie wenig später los ließ hielt das Mädchen, das Annabel hieß, die Blumen fest in ihrer kleinen Hand.
Mit liebevollem Blick hatte Joshua den Vorfall beobachtet. „Belinda", sagte er und wandte sich jetzt dem anderen Mädchen zu. Zärtlich steckte er die mitgebrachten
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