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Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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sein.«
    »Viele Krankenschwestern hassen meine Frau, Agentin Morse. Sie halten Thora für arrogant.«
    »Ist sie das?«
    »Diese Frage ist schwer zu beantworten. Thora ist intelligenter als die Hälfte der Ärzte hier. Sie können sich ausmalen, welche Folgen das bei ihnen hat. Die meisten sind Männer.«
    »Ich kann es mir vorstellen.« Im Lautsprecher des Handys knackte und rauschte es von Statik. »Hören Sie, Chris, ich stehe auf Ihrer Seite. Ich bin Ihre Freundin, selbst wenn Sie mich nicht kennen. Freunde sagen einander die Wahrheit, auch wenn sie schmerzt.«
    »Sind Sie meine Freundin? Oder ist es so, dass Sie mich brauchen?«
    »Geben Sie mir eine Chance, es Ihnen zu zeigen. Danach können Sie sich Ihre eigene Meinung bilden.«
    Jede Wette, dass sie eine verdammt gute Geisel-Unterhändlerin gewesen ist, dachte er, als er die rote Taste drückte. Ich tanze jetzt schon nach ihrer Pfeife.

13
    Vier Stunden, nachdem sie mit dem Rad die letzten anderthalb Kilometer zu ihrem Wagen gefahren war, saß Alex Morse auf einer Bank im Schatten einer katholischen Kirche in der Innenstadt von Natchez und beobachtete Thora Shepard, als sie mit wehenden blonden Haaren unter einem blauen Seidentuch aus dem Fitnesscenter trat. Sie wandte sich nach rechts und ging über die Main Street in westliche Richtung. Vierhundert Meter weiter lag die sechzig Meter hohe Steilklippe, die den Mississippi überragte. Thora lief häufig am Rand der Klippe entlang, die sich kilometerweit erstreckte. Lediglich ein Maschendrahtzaun und ein paar vereinzelte Büsche trennten sie vom Abgrund. Alex war ihr einmal auf einem Lauf gefolgt und hatte den gewaltigen Strom bestaunt. Der braune, schmutzige Mississippi war bei Natchez gut einen Kilometer breit, und das weiter südlich liegende Louisiana-Delta erstreckte sich flach und eben bis hinter den Horizont.
    Doch Thora war an diesem Tag nicht zum Laufen hergekommen. Sie trug eine Sonnenbrille von Mosquito und einen maßgeschneiderten Hosenanzug, der wahrscheinlich mehr gekostet hatte, als Alex in einem Monat verdiente. Wie Thora elegant die Straße hinunterging, sah sie aus, als wäre sie geradewegs dem Titelbild einer Modezeitschrift entstiegen. Alex bemerkte die Blicke, die andere Passanten Thora hinterherwarfen. Es waren nicht allein Männer, die gafften, auch Frauen. Sie war unglaublich attraktiv. Vielleicht lag darin auch die Wurzel von Alex’ Antipathie. Alex hatte Blondinen noch nie gemocht. Sie wollte nicht in Schubladenkategorien denken, doch bei Blondinen fiel es ihr schwer, das nicht zu tun. Sie hatten eine gewisse Art zu gehen, zu reden und die Haare zu werfen, die ihr einfach auf die Nerven ging. Dieses hilflose Trällern in den Piepsstimmen, dieser erbärmliche Kleinmädchenton – selbst eine Andeutung dieses Klangs erweckte in Alex Aggressionen. Und das, ohne auf das eigentliche »Blondinenproblem« grenzenloser Dummheit eingegangen zu sein. Alex wusste, dass nicht alle Blondinen von Geburt an dumm waren – auf der anderen Seite hatte sie nicht viele kennen gelernt, die intellektuell gewesen wären.
    Und das war das grundlegende Problem, das Alex mit dieser Sorte Frauen hatte: Die meisten Blondinen hatten niemals wirklich hart für das arbeiten müssen, was sie im Leben wollten. Aus diesem Grund hatten sie – abgesehen von Flirten und anderen Frauen Messer in den Rücken stoßen – herzlich wenige Fähigkeiten entwickelt, die sich in einer praktischen Situation als nützlich erweisen konnten.
    Natürlich waren heutzutage die meisten Blondinen nicht mehr echt. Das musste man Thora lassen: Wenige Menschen, selbst die, die als Kinder hellblond gewesen waren, schafften es bis in das spätere Erwachsenenleben hinein, ihre blonde Haarfarbe zu behalten, ohne auf natürliche Weise nachzudunkeln. Doch Thora hatte dänisches Blut in den Adern, und ihre blonden Wikinger-Haare waren fast so hell wie die ihres Vaters, der mit achtundfünfzig Jahren noch immer schockierend volles Haupthaar besessen hatte. Aus diesem Grund allein strahlte Thora Shepard im Gegensatz zu den blondierten, gefärbten, aufgedonnerten, sonnenbankgebräunten Frauen, die Alex Tag für Tag sah und verachtete, eine Art von raubtierhaftem Selbstbewusstsein aus, gepaart mit einer Aufmerksamkeit, die signalisierte, dass sie sich ganz bestimmt nicht von jedem beliebig auf den Arm nehmen ließ. Diese Ausstrahlung war die Ursache für die Blicke, die Frauen und Männer ohne Unterschied hinter ihr her warfen, wenn Thora ihnen auf

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