Leises Gift
Radfahrermontur gegen eine Khakihose und eine hellgelbe Bluse getauscht. Er sah keine Spur von einer Schusswaffe. Vielleicht trug sie die Pistole in der braunen Handtasche, die zu ihren Füßen am Boden lag.
»Was wollten Sie mir zeigen?«, kam er ohne Umschweife zur Sache.
»Man kann uns hier leicht entdecken«, erwiderte Alex. »Können wir vorher woanders hingehen?«
»Ja, ich denke schon. Der St. Catherine’s Creek grenzt an das Gelände. Zwischen den Bäumen dort gibt es einen Pfad, der zum Creek hinunter führt.«
»Gut.«
Sie setzte sich in die angegebene Richtung in Bewegung, ohne auf ihn zu warten. Chris schüttelte frustriert den Kopf; dann folgte er ihr.
Entlang dem Weg wurden die Eichen von Ulmen abgelöst, dann von Pappeln. Bambusgehölze erschienen zu beiden Seiten, und bald bewegten sie sich über feuchten gelben Sand. Die Luft stank nach totem Fisch. Es war gerade zwei Jahre her, erinnerte sich Chris, als eines der schönsten jungen Mädchen der Stadt an diesem Fluss ermordet worden war, gar nicht weit von hier. Tom Cages Sohn hatte den Hauptverdächtigen in dem Fall verteidigt – einen bekannten Internisten aus Natchez, ausgerechnet! Nur ein völliger Freispruch hatte Penn Cage davor bewahrt, die gleiche Ablehnung zu erfahren, wie sie seinem Mandanten im Laufe des Verfahrens entgegengeschlagen war. Doch es war ihm gründlich gelungen, denn keine zwei Monate später hatte Penn bei einer außerordentlichen Wahl den Sieg davongetragen und war zum Bürgermeister von Natchez bestellt worden.
»Wie weit ist es noch bis zu diesem Creek?«, fragte Alex schwer atmend. Sie schwitzte stark.
»Fünfzig Meter.«
»Sollen wir nicht einfach hier stehen bleiben?«
»Nein, wir sind mitten im Moskitogebiet.«
Die Bäume wichen zurück, und eine nackte Sandbank wurde sichtbar. Dahinter verlief ein breiter, träger Bach. Die ruhige Strömung war trügerisch. Während starker Regenfälle oder Gewitter hatte Chris mehr als einmal mit eigenen Augen gesehen, wie der Bach plötzlich zu einem reißenden Fluss angeschwollen war, der entwurzelte Bäume durch die Stadt trug, als wären es Streichhölzer. So war es auch an dem Tag gewesen, als dieses arme Mädchen ermordet worden war …
»Das ist weit genug«, sagte Alex und blieb mitten auf der Sandbank stehen. »Setzen Sie Ihr Pokergesicht auf, Doktor.«
Chris ballte hilflos die Fäuste.
Sie öffnete ihre Handtasche und reichte ihm eine frisch ausgedruckte, noch feuchte Fotografie. Das Bild zeigte Thora von Angesicht zu Angesicht mit Shane Lansing. Hinter den beiden erkannte er den schwarzen Granitstein, aus dem die Fassade des Kamins im großen Wohnzimmer ihres neuen Hauses in Avalon gemauert war. Thoras Gesicht war lebhaft – wütend, schien es, doch das vermochte er nicht mit Sicherheit zu sagen und sie gestikulierte mit beiden Händen. Lansing lauschte so unterwürfig, wie Chris ihn noch nie gesehen hatte. Es war nicht zu sagen, worüber die beiden redeten, doch sie standen definitiv sehr nah beieinander – im persönlichen Raum des jeweils anderen, wenngleich nicht in intimer Distanz.
»Woher haben Sie das?«, fragte Chris.
»Sie wissen woher.«
»Ich meine, wie sind Sie an dieses Bild gelangt? Und wann haben Sie es gemacht?«
»Vor fünfundvierzig Minuten. Ich habe es auf einem portablen Canon-Drucker in meinem Wagen ausgedruckt.«
Chris hatte das Gefühl, als schwankte der Boden unter seinen Füßen. Thora trug den gleichen blauen Seidenschal und das gleiche weiße Top, das sie erst wenige Minuten zuvor in seiner Praxis angehabt hatte – und sie hatte mit keinem Wort erwähnt, dass sie sich vorher mit Lansing getroffen hatte. »Sie sind mit den beiden ins Haus geschlichen?«
»Nein. Ich habe sie durch ein Fenster fotografiert. Ich war es leid, dass Sie mir immer wieder gesagt haben, ich hätte eine blühende Fantasie. Dass ich nichts von dem beweisen könnte, was ich sage.«
Chris blickte den Creek entlang zu einer fünfzehn Meter hohen Klippe, die von dichtem, grünem Kudzu überwuchert war. »Was soll dieses Foto Ihrer Meinung nach beweisen?«, fragte er.
»Auf jeden Fall, dass Ihre Frau etwas anderes mit Lansing macht, als ihm nur das neue Haus zu zeigen. Es ist ihr drittes Treffen diese Woche.«
»Haben Sie gehört, worüber die beiden gesprochen haben?«
»Ich konnte nicht näher heran, ohne entdeckt zu werden.«
Chris ging zu einem großen angeschwemmten Baumstamm und setzte sich schwer.
»Dr. Shepard?«
Er antwortete nicht. Er
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