Leises Gift
Leichtigkeit hatte entgehen können – insbesondere nach der Diagnose der Krankheit ihrer Mutter.
O Gott, dachte Alex. Ich muss bei Mutter anrufen und die Schwestern fragen, wie es aussieht.
Sie drehte sich zu Shepard um, wollte ihm zurufen, dass sich das Foto nicht ändern würde, egal wie lange er darauf starrte – doch dann schwieg sie.
Chris Shepard war verschwunden.
16
Die Menge tobte beim Klang des Aluminiumschlägers, und zweihundert Augen folgten dem Bogen des mit Wucht getroffenen Baseballs im Licht der Scheinwerfer. Chris, der Instruktionen erteilte, beobachtete Ben, der den Ball weit geschlagen hatte.
Er hörte, wie Thora ihren Sohn von der Tribüne aus anfeuerte, sah aber nicht hin. Er war in einer Art Schockzustand, seit Alex Morse ihm am Ufer des St. Catherine’s Creek das Foto gegeben hatte. Sein erster Impuls war gewesen, nach Hause zu fahren und Thora zur Rede zu stellen, doch als er am Krankenhaus vorbeifuhr, hatte er sich so weit gefangen, dass er drehen, den Wagen parken und seine Visite machen konnte. Anschließend war er in die Praxis zurückgekehrt und hatte den Rest des Nachmittags gearbeitet. Die meisten Bluttests von Thora waren zwischenzeitlich erledigt; die einzige Anomalität war eine schwache Anämie, wie man sie häufig bei Langstreckenläufern finden konnte.
Chris beobachtete wieder seinen Adoptivsohn. Dieser hübsche junge Bursche, der »Dad« zu ihm sagte, war der Sohn eines Mannes, dem Chris nie begegnet war – Ergebnis eines Kapitels in Thoras Leben, das zu großen Teilen unbekannt geblieben war. Bevor Alex Morse in Natchez erschienen war, hatte Chris dieses Unbekannte in Thoras Leben nicht viel ausgemacht. Doch jetzt hatte sich das alles geändert. Er hatte nicht mehr mit Thora gesprochen, seit sie seine Praxis am frühen Nachmittag verlassen hatte. Er hatte Ben nach der Arbeit angerufen und ihm gesagt, dass er vor dem Haus warten sollte. Thora hatte vom Küchenfenster aus gewunken, als er vorgefahren war, und ihm signalisiert zu warten, doch Chris war ohne ein Wort zum Baseballplatz weitergefahren.
Chris bemühte sich, in die Gegenwart zurückzukehren. Er hatte kein Mittag-und kein Abendessen gehabt und fühlte sich benommen, seit das Spiel angefangen hatte. Das gegnerische Team lag einen Run vorne. Falls seine Jungs nicht punkten konnten und eine Verlängerung erzwangen, war das Spiel verloren.
Chris winkte Ben mit erhobenem Daumen und zog seinen Gürtel hoch, das Signal für einen so genannten Bunt, einen extrem kurzen Ball. Während er auf den Wurf wartete, fiel sein Blick auf den Maschendrahtzaun zu seiner Linken, und ihm wurde bewusst, dass eine Bewegung seine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Eine junge Frau auf einem Fahrrad fuhr an der Seite des Spielfelds entlang. Als sie die Hand zu einem verstohlenen Winken hob, schlug ihm das Herz mit einem Mal bis zum Hals.
Alexandra Morse.
Wahrscheinlich war sie in Panik geraten, als er vom Ufer des St. Catherine’s Creek verschwunden war. Sie hatte seit dieser Begegnung so oft auf seinem Handy angerufen, dass er es ausgeschaltet hatte. Sie hatte sogar versucht, in seiner Praxis anzurufen, doch sein Personal hatte sich geweigert, sie zu ihm durchzustellen.
Konzentrier dich auf das Spiel, dachte Chris und kämpfte gegen den Impuls an, erneut in Alex’ Richtung zu sehen. Wir haben noch eine Chance.
Doch das Spiel war entschieden. Chris beobachtete, wie Ben sich nach einem beherzten Sprint zu Boden warf und in einer gewaltigen Staubwolke die Seitenlinie entlangrutschte. Schlagartig herrschte auf den Bänken Totenstille. Chris schlug das Herz bis zum Hals. Hatte Ben es vielleicht doch noch geschafft? Doch denn blitzte es mitten in der Staubwolke weiß auf.
»Aus!«, rief der Schiedsrichter.
Auf den Tribünen erklangen Wut-und Jubelschreie. Chris rannte aufs Spielfeld, doch es war zwecklos, gegen die Entscheidung zu protestieren. Er hatte die letzten Augenblicke des Spielzugs nicht gesehen, und der Schiedsrichter wohl auch nicht. Es war so viel Staub in der Luft gewesen, dass der finale Akt des Spiels gleichsam im Nebel stattgefunden hatte.
Ben erhob sich mit hochrotem Gesicht und starrte den Schiedsrichter mit Tränen der Wut in den Augen an, doch ehe er etwas sagen konnte, packte Chris ihn am Arm und zog ihn vom Spielfeld.
»Guter Versuch«, sagte er, »aber es ist vorbei.«
Nachdem die Spieler beider Teams sich die Hände gereicht hatten, versammelte Chris seine Mannschaft und hielt in der aufkommenden Dämmerung
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