Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leises Gift

Leises Gift

Titel: Leises Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
Vom Netzwerk:
sah er die Antwort. Zuoberst auf einem Rezeptblock war das silberne Motorola-Klapphandy, das Alex Morse ihm an diesem Morgen auf dem Natchez Trace gegeben hatte. Falls Thora seine Schublade geöffnet hatte, konnte sie es unmöglich übersehen haben. Vielleicht hat sie es getan, dachte er. Nein … hätte sie ein neues Handy gesehen, hätte sie mich danach gefragt.
    Chris drehte das Motorola nachdenklich in den Händen und sah, dass das blaue LCD-Fenster einen Anruf in Abwesenheit anzeigte. Das Telefon war stumm geschaltet. Er klappte es auf und überprüfte den Zeitpunkt des Anrufs. Vor einer Minute. Rasch wählte er die einzige Nummer, die in den Telefonspeicher einprogrammiert war. Schon nach dem ersten Klingelton meldete sich eine Frauenstimme. »Alex hier. Können Sie reden?«
    »Ja.«
    »Ich bin direkt draußen vor Ihrer Praxis. Thora ist eben weggefahren.«
    Er spürte, wie ihn Orientierungslosigkeit erfasste. »Warum sind Sie hier?«
    »Ich bin Ihrer Frau gefolgt.«
    »Scheiße, Alex. Was machen Sie hier?«
    »Ich versuche, Ihnen das Leben zu retten.«
    »Mein Gott! Ich habe Ihnen doch gesagt …«
    »Ich muss Ihnen etwas zeigen, Chris. Einen eindeutigen Beweis.«
    Angst schnürte ihm die Brust zusammen. »Was denn?«
    »Das sage ich Ihnen, wenn wir uns sehen.«
    »Verdammt! Sie sagen, Thora ist weg?«
    »Ja.«
    »Dann kommen Sie in meine Praxis.«
    Zögern. »Das wäre ein Fehler.«
    »Sie können den Hintereingang benutzen.«
    »Nein, Sie kommen raus.«
    »Ich habe noch Patienten hier! Ich kann jetzt nicht weg! Abgesehen davon, wohin wollen Sie überhaupt?«
    »Es gibt eine Art Park am Ende dieses Boulevards.«
    »Das ist kein Park, das ist ein historischer Ort. Das Große Dorf der Natchez-Indianer.«
    »Meinetwegen. Es liegt verlassen, und es ist nur einen halben Kilometer entfernt.«
    »Agentin Morse, ich …«
    »Fährt Thora heute noch weg, Chris?«
    »Nein, morgen früh.«
    Er hörte, wie sie den Atem ausstieß. »Es dauert keine zehn Minuten. Sie sind es sich schuldig, Dr. Shepard. Und Ben ebenfalls.«
    Wut und Empörung stiegen in ihm auf. Er überlegte, ob er Morse bitten sollte, zehn Minuten zu warten und dann in seine Praxis zu schlüpfen, doch manchmal blieben ein oder zwei Angestellte über Mittag und aßen einen mitgebrachten Imbiss im Aufenthaltsraum. Er wusste nicht, ob das heute auch so sein würde. »Wir treffen uns dort in fünfzehn Minuten.«
    »Ich warte auf dem großen Hügel in der Mitte«, sagte Alex.
    Großer Hügel? »Das ist ein zeremonieller Ort, kein gewöhnlicher Hügel. Ein indianischer Grabhügel.«
    »Wunderbar. Bitte seien Sie pünktlich.«
    Fünfzehn Minuten später stapfte Chris unter einem dichten Hain aus Eichen hindurch in Richtung einer grasbewachsenen Lichtung, die fast einen halben Kilometer breit war. Er eilte am Nachbau einer Indianerhütte vorbei und gelangte ins Sonnenlicht. In der Mitte der Lichtung standen zwei steile Hügel etwa achtzig Meter auseinander. Der nähere der beiden war ein zeremonieller Grabhügel, wo Große Sonne, der Häuptling der Natchez-Indianer, einst die Rituale dieses einzigartigen Stammes geleitet hatte. Weiter dahinter stand der Tempelhügel. Beide waren von den sonnenanbetenden Eingeborenen errichtet worden, die dieses Land tausend Jahre vor dem ersten Weißen besiedelt hatten. Wie viele der alten Städte war auch Natchez auf Mord und Totschlag gegründet worden, in diesem Fall dem blutigen Vernichtungskrieg, den französische Truppen aus New Orleans 1730 gegen die Indianer geführt hatten als Vergeltung wegen eines Massakers der Eingeborenen an den französischen Siedlern im Jahr zuvor.
    Chris schirmte die Augen mit der flachen Hand gegen die Sonne ab und blickte suchend zum näheren Hügel, wo er eine kleine Silhouette entdeckte. Er war nicht sicher, ob es sich um Agentin Morse handelte, doch er ging trotzdem zu dem Hügel, während er das Gelände unablässig absuchte und ein halbes Dutzend Touristen beim Tempelhügel sah, die sich in Zweiergruppen bewegten.
    Sein Atem ging schneller, als er den Hügel hinaufstieg, ein kleiner Erdhaufen im Vergleich zum Emerald Mound nördlich der Stadt, wo die Natchez eine irdene Entsprechung der Maya-Tempel auf der Yukatan-Halbinsel erbaut hatten, auch wenn Anthropologen glaubten, dass keine direkte Verbindung zwischen den beiden Völkern bestand.
    »Sie haben zwanzig Minuten gebraucht«, sagte die Silhouette über ihm.
    Als Chris oben war, sah er sich Alex Morse gegenüber. Sie hatte ihre

Weitere Kostenlose Bücher