Leises Gift
Menge gesehen. Die Leute versuchen es mit Insulin, weil es einen schmerzlosen Tod verspricht. Aber häufig endet es im Koma. In einem permanenten Dahinvegetieren. Ist er Diabetiker?«
»Ja. Zwei Injektionen täglich.«
Chris blickte hinaus auf den Fluss. »Könnte ein Unfall gewesen sein.«
»Ich glaube nicht. Andererseits glaube ich auch nicht, dass es ein Selbstmordversuch war.«
Chris schwieg.
Alex kam ein paar Schritte auf ihn zu, und ihr Blick bohrte sich in seine Augen. »Was ist los mit Ihnen?«
»Nichts«, antwortete Chris.
»Warum sind Sie nicht in der Praxis?«
»Mir war nicht nach Arbeiten zumute. Warum glauben Sie nicht, dass es ein Selbstmordversuch war?«
Sie sah ihn an, als wäre sie nicht sicher, ob sie das Thema seines mentalen Zustands wegen fallen lassen sollte oder nicht. »Der Name des Mannes lautet William Braid. Er kommt aus Vicksburg. Seine Frau hat furchtbar gelitten, bevor sie starb. Wenn ich recht habe und Braid für ihren Tod bezahlt hat, gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens, Braid war so sehr von Schuldgefühlen zerfressen, dass er sich selbst nicht einen Tag länger ertragen hat. Gerüchte scheinen dies zu bestätigen. Doch ein paar seiner engen Freunde erklären, Braids Ego sei so groß, dass er niemals einen Selbstmordversuch unternommen hätte.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Es könnte auch sein, dass, wer auch immer von Braid für die Tat angeheuert wurde – Andrew Rusk beispielsweise – zu dem Schluss kam, dass ein instabiler, von Schuldgefühlen geplagter Mandant ein unerträgliches Risiko darstellt. Insbesondere jetzt, nachdem ich angefangen habe herumzuschnüffeln.« Alex blickte die Cemetery Road hoch und runter. »Wie schwierig kann es sein, Braid in ein dauerhaftes Koma zu versetzen?«
»Ein Kinderspiel im Vergleich dazu, jemanden mit Krebs zu infizieren. Denken Sie an den Fall Claus von Bülow. Die gleiche Geschichte.«
Alex’ Augen blitzten. »Sie haben recht. Nur, dass es in diesem Fall keine Familie gibt, die wütend reagieren könnte. Indem er Braid ins Koma versetzt hat, anstatt ihn zu töten, hat der Angreifer die polizeilichen Untersuchungen gleichzeitig auf ein Mindestmaß reduziert.«
Ein alter Pick-up rumpelte vorüber. Aus dem Auspuff kamen blau-schwarze Rußwolken.
»Sie sehen furchtbar aus«, sagte Chris. »Warum haben Sie nicht geschlafen?«
»Ich war gestern Nacht in Jackson, um meine Mutter zu besuchen. Sie musste wieder ins Krankenhaus eingeliefert werden. Ihre Leber versagt. Die Nieren ebenfalls.«
»Das tut mir leid.«
»Sie liegt im Sterben. Millionen von Ödemen … Sie steht unter starken Schmerzmitteln.«
Chris nickte. Er wusste, wovon sie redete. Er hatte es viele Male selbst erlebt.
»Es ist merkwürdig«, sagte Alex. »Setzen Sie mich in ein Flugzeug, und ich schlafe von dem Augenblick, in dem das Fahrwerk eingezogen wird, bis wir an der Landebrücke zum Stehen kommen. Aber im Krankenhaus … ich kann es einfach nicht.«
Sie schien zu erwarten, dass er Konversation betrieb, doch Chris wusste nicht, was er sagen sollte.
»Ich habe ein paar Stunden im Wagen geschlafen«, fügte sie hinzu.
»Hört sich riskant an.«
»Ach, ist es eigentlich gar nicht. Ich habe auf dem Parkplatz hinter Ihrer Praxis gestanden. Ich hab immer noch geschlafen, als Sie gefahren sind.«
Er spürte einen Anflug von Schuldgefühl.
»Ich dachte mir, dass Sie hierherkommen könnten«, fuhr sie fort. »Ich bin Thora gefolgt, als sie hier draußen gejoggt ist.«
»Hören Sie, Agentin Morse …«
»Würden Sie mich bitte Alex nennen, Herrgott noch mal?« Die Verärgerung trieb ihr die Röte ins Gesicht und verdunkelte die Narben um ihr rechtes Auge.
»Okay, Alex. Ich habe alles gehört, was Sie mir zu sagen hatten, in Ordnung? Ich habe gesehen, was Sie mir gezeigt haben. Ich weiß, was Sie von mir wollen. Was ich tun soll. Ich habe sogar über die Möglichkeit nachgedacht, einen Menschen absichtlich mit Krebs zu infizieren. Aber mir ist nicht danach, Ihnen heute noch eine Minute länger zuzuhören. Deswegen habe ich Ihre Anrufe nicht beantwortet.«
Ihr Gesichtsausdruck zeigte keinen Zorn mehr, sondern so etwas wie Mitgefühl. »Und wonach ist Ihnen heute?«
»Nach Radfahren.«
Sie drehte die Handflächen nach oben. »Prima. Warum nicht?« Sie nickte in Richtung eines sich nähernden Wagens. »Aber wir sollten sehen, dass wir von der Straße runterkommen. Wohin wollten Sie von hier aus fahren?«
Er verspürte keine Lust, ihr von Devil’s Punchbowl
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