Leises Gift
zu erzählen. »Ich wollte auf dem Friedhof ein paar Sprints üben und mich dann für eine Weile auf dem Jewish Hill ausruhen.«
»Wo ist dieser Jewish Hill?«
Er deutete auf einen zehn Meter hohen Hügel voller Monumente aus Marmor, in dessen Mitte ein Fahnenmast in die Höhe ragte. Die amerikanische Flagge, schändlich verwittert und an den Enden ausgerissen, flatterte in der frischen Brise. »Der beste Platz, um den Fluss zu beobachten.«
»Ich kann heute nicht mit Ihnen fahren«, sagte Alex und nickte in Richtung des leeren Fahrradhalters an ihrer Heckstoßstange. »Können wir nicht einfach ein wenig spazieren gehen? Ich würde nicht mal den Mund aufmachen und reden, wenn Sie nicht wollen.«
Chris wandte den Blick ab. Konnte sie tatsächlich neben ihm her gehen, ohne über ihre Zwangsvorstellung zu reden? Er bezweifelte es. Und falls sie es tat, würde es ihn ganz sicher noch tiefer in Depressionen treiben. Trotzdem war sie eigenartigerweise der einzige Mensch, der vielleicht verstand, was an ihm nagte. »Wir würden ohne Zweifel Leute treffen, die mich kennen, ob Sie es glauben oder nicht. Viele Leute nutzen diesen Friedhof zum Laufen.«
Alex zuckte die Schultern. »Und wenn schon. Erzählen Sie ihnen, ich wäre eine Ärztin von außerhalb. Sie und Tom Cage würden überlegen, eine neue Partnerin in die Praxisgemeinschaft aufzunehmen.«
Zum ersten Mal seit vielen Stunden – vielleicht Tagen – musste Chris grinsen. Er stieg auf sein Fahrrad und radelte langsam auf den nächstgelegenen Friedhofseingang zu, ein schmiedeeisernes Ungeheuer von Tor, angeschlagen an massiven, aus Ziegelsteinen gemauerten Säulen. Der gesamte Friedhof war voller wunderschöner Schmiedearbeiten aus einem anderen Zeitalter. Alex fuhr ihren Corolla durch das offene Tor und parkte den Wagen auf dem Gras. Chris kettete sein Rad auf dem Träger an; dann führte er Alex über einen der schmalen Pfade, die sich über den Friedhof zogen.
Sie gingen eine ganze Weile schweigend nebeneinanderher und drangen immer tiefer ins Innere des Friedhofs vor. Wie ein großer Teil des historischen Natchez war auch der Friedhof neoklassizistisch geprägt, hauptsächlich dank der architektonischen Vorlieben der Baumwollbarone aus der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Hier lagen die Toten der Konföderierten begraben, außerdem zahlreiche Amerikaner von nationalem Ansehen, doch es waren die Gräber der gewöhnlichen Leute, die Chris immer am stärksten interessiert hatten.
»Sehen Sie dort«, sagte er und deutete auf einen dunklen, von Moos überwucherten Stein.
»Wer liegt da begraben?«
»Ein kleines Mädchen, das Angst hatte vor der Dunkelheit. Sie hatte so große Angst, der Tod könnte ewige Dunkelheit bedeuten, dass ihre Mutter sie mit einem Glasfenster im Sargdeckel begrub. Stufen führen in die Gruft. Die Mutter stieg jeden Tag hinunter und las ihrer toten Tochter aus ihrem Lieblingsbuch vor.«
»Mein Gott. Wann war das?«
»Vor ungefähr hundert Jahren.«
»Kann ich sie sehen?«
»Nicht mehr. Irgendwann musste die Gruft verschlossen werden, wegen Vandalismus. Ständig kommen irgendwelche Arschlöcher hier raus und zerstören Dinge. Ich wünschte, ich hätte die Zeit, mich ein paar Nächte am Stück auf die Lauer zu legen. Ich würde jedem die Seele aus dem Leib prügeln, der versucht, diesen Ort zu entweihen.«
Alex lächelte. »Ich glaube Ihnen.«
Sie übernahm die Führung und schlug einen Weg ein, der in sanftem Anstieg zur höchsten Stelle über dem Fluss führte. »Sie sagten, Sie hätten über meine Krebstheorie nachgedacht.«
»Ich dachte, Sie wollten nicht darüber reden.«
»Sie haben die Konversation eröffnet.«
Chris hörte sich selbst kichern. »Schätze, das habe ich.« Er ging ein paar Meter weiter; dann sagte er: »Ich habe zwischendurch ein wenig in meinen onkologischen Lehrbüchern gelesen.«
»Und was haben Sie herausgefunden?«
»Ich hatte recht, was die Komplexität der verschiedenen Formen von Blutkrebs angeht. Wir wissen in neunzig Prozent der Fälle nicht, wodurch sie verursacht werden. Wir wissen, dass die meisten Formen verschiedene Ursachen haben. Das lässt sich anhand der unterschiedlichen Veränderungen in zahlreichen Blutzellen nachweisen und anhand anderer Faktoren wie Suppressor-Genen gegen Tumore, Wachstumsfaktoren und so weiter. Wir reden hier von ultramoderner Medizin.«
»Hatte ich recht, was Strahlung angeht?«
»Soweit es Ihre Behauptungen betrifft, ja. Man kann durch Strahlung
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