Leises Gift
verstanden.«
Barnetts Augenlider flatterten, als er begriff. »Nichts«, beeilte er sich zu sagen. »Ich habe nur vor mich hin gemurmelt.«
»Dachte ich mir.«
Der Ölmagnat sah Rusk noch einen Moment an; dann wandte er sich zum Gehen. Als er an der Tür war, rief Rusk ihm hinterher: »Carson?«
Barnett drehte sich um. Er wirkte erschöpft.
»Ich glaube nicht, dass Sie mit Ihrer zukünftigen Braut darüber reden sollten.« Dann, im aufrichtigsten Moment des gesamten Meetings, fügte Rusk hinzu: »Man weiß schließlich nie, wie die Dinge sich in Zukunft entwickeln.«
Barnett riss erschrocken die Augen auf; dann wandte er sich um und eilte aus dem Büro.
21
Chris passierte Little Theater und lenkte sein Rennrad in die Maple Street. Er trat hart in die Pedale während des langen Anstiegs zum Natchez Cemetery. Bald würde er am Steilufer herauskommen – Kilometer freies, offenes Land zur Linken und den alten Friedhof auf der rechten Seite.
Chris hatte im Laufe der Jahre seinen Patienten eine Menge Antidepressiva verschrieben, doch er selbst hatte niemals an Depressionen gelitten. Plaths Metapher von einer Glasglocke erschien ihm verblüffend angemessen: Er fühlte sich, als wäre alle Luft aus seinem Leben gesaugt worden, als würde er sich in einem Vakuum bewegen und als hätte sein Tun, ganz gleich, wie er sich entschied, keinerlei Bedeutung oder positive Konsequenz in der realen Welt.
Tom Cage, aufmerksam wie eh und je, hatte Chris’ benommenen geistigen Zustand sofort bemerkt und ihm gesagt, dass er sich den Nachmittag frei nehmen sollte. Da Thora vor Tagesanbruch zum Delta aufgebrochen war (trotz ihres Versprechens, Ben vorher zur Schule zu bringen), bestand seine einzige sonstige Verpflichtung darin – abgesehen von der abendlichen Visite –, Ben um vier Uhr nachmittags zur Geburtstagsparty in der Bowlinghalle zu bringen. Selbst das konnte er mit einem einzigen Anruf an Mrs. Johnson übertragen.
Nachdem er die Praxis verlassen hatte, war Chris nach Hause gefahren, hatte sich umgezogen und war, ohne es wirklich zu beabsichtigen, zu einer Fahrradtour von Elgin hinunter an den Mississippi aufgebrochen. Er hatte die fünfundzwanzig Kilometer in sechsunddreißig Minuten zurückgelegt – ein neuer Rekord für ihn doch er fühlte sich weder müde noch beschwingt. Er fühlte sich eher wie eine Maschine, die mit der Fähigkeit zu denken ausgestattet war, auch wenn er nicht denken wollte, sich richtiggehend dagegen sträubte. Angesichts des böigen Windes aus westlichen Richtungen wollte er nichts weiter als den Kamm des Hügels überqueren und sich der Brise entgegenstellen, die die sechzig Meter hohe Klippe entlang dem Mississippi River hinaufgeschossen kam.
Zehn Sekunden, nachdem er die Cemetery Road erreicht hatte, öffnete sich zu seiner Linken das breite Flusstal. Er wusste inzwischen, dass er nicht über den Friedhof fahren würde, wie er es üblicherweise tat, sondern bis zur Devil’s Punchbowl weiterfahren würde, dem tiefen Hohlweg, wo berüchtigte Gesetzlose in vergangenen Jahrhunderten die Leichen ihrer Opfer abgeladen hatten. Er starrte so geistesabwesend über die endlosen Baumwollfelder Louisianas, dass er beinahe gegen einen Wagen gekracht wäre, der quer über die Straße stand und ihm den Weg versperrte.
Chris legte eine Vollbremsung hin und wäre um ein Haar über den Lenker gesegelt. Er wollte die Person am Steuer anbrüllen, als diese ausstieg und ihm zuvorkam. Er stand mit offenem Mund da und starrte.
Die Person war Agentin Alex Morse.
Sie sah aus, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. Ihre Stimme war rau, sie hatte schwarze Ränder unter den Augen, und zum ersten Mal, seit er sie kannte, schien sie die Kontrolle verloren zu haben.
»Warum haben Sie meine Anrufe nicht entgegengenommen?«, fuhr sie ihn an.
»Ich weiß nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Vielleicht weil ich mir denken kann, was Sie sagen wollen.«
»Sie können sich überhaupt nicht denken, was ich sagen will, verdammt! Es ist etwas Schreckliches passiert! Etwas, das ich in einer Million Jahre nicht vorhergesehen hätte!«
Chris rollte mit dem Rad zu ihrer offenen Tür. »Und was?«
»Einer der Ehemänner, die ihre Frauen ermordet haben, hat gestern Abend versucht, sich das Leben zu nehmen.«
»Und wie?«, fragte Chris geschockt.
»Eine Überdosis Insulin.«
»Er lebt noch?«
Alex nickte.
»Aber er ist ins Koma gefallen?«
»Woher wissen Sie das?«
»In meiner Zeit als Assistenzarzt habe ich eine
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