Leitfaden China
einer auf grösseren Freiräumen basierenden westlichen Gesellschaft.
Dies heisst jedoch nicht, dass wir als Europäer nicht auch unser Gesicht verlieren könnten. Ich reagiere in solchen Situationen in China sehr direkt und äussere mein Missfallen. Denn wenn mich die chinesischen Harmoniebemühungen nicht einschliessen, heisst dies, dass ich in ihren Augen nicht im Mittelteil der Kurve bin und mich wehren muss. Wenn ich schon nicht im Mittelteil bin, muss ich mich nicht an die Harmonieregeln halten und kann Unruhe in das System bringen, in der Hoffnung, es reagiere dann so, dass es mich aufnimmt. Wehrt sich ein Chinese oder Ausländer in dieser Aussenseiterposition nicht und macht sich nicht bemerkbar, wird er in der Gesellschaft nie ernst genommen.
2. Denkunterschiede
Nicht nur die «harten», deutlichen Vehaltensunterschiede werden durch die soziale Dichte und die damit einhergehende Beengung beeinflusst. Auch «weiche» Faktoren wie das Denken erfahren durch die anderen sozialen Hintergründe Veränderungen. In einem dichten sozialen Umfeld sind die Wahrnehmungshorizonte beträchtlich stärker beschränkt als in einer Umgebung, die über grössere Freiräume verfügt.
Kürzere Wahrnehmungshorizonte ergeben sich daraus, dass sich eine Chinesin oder ein Chinese in einem Bus kaum mehr darauf konzentriert, was ausserhalb auf der Strasse vorgeht. Die Aufmerksamkeit ist auf die umgebenden Menschen ausgerichtet. Weil diese so nahe stehen, findet diese Informationsaufnahme nicht wie bei einem Beobachter primär über Augen und Ohren statt, es sind alle Sinne involviert. Es gibt kein Entrinnen vor dem Geruch der umgebenden Menschen, vor ihren Berührungen in dieser dichtgedrängten Umgebung. Die Informationen über die unmittelbare Umgebung absorbieren die grösste Aufmerksamkeit.
Die Aufnahme all dieser Informationen bringt eine Informationsüberlastung mit sich, die nur noch intuitiv bewältigt werden kann. Der chinesischen Person fehlt der Abstand zum Geschehen, sie hat die Subjekt – Objekt Unterscheidung nie gemacht, die der Westen seit altgriechischer Zeit kennt (siehe z. B. Roetz, 1984, Scheuerle, 1984). Ein Chinese ist nie Beobachter seiner Umgebung, er ist immer Teilnehmer an ihr.
Die chinesische Person geht deshalb intuitiv an die Wirklichkeit heran. Auf Grund der vielen Informationen und der kurzen Zeit, in der sie verarbeitet werden müssen, nimmt sie diese Wirklichkeit als ablaufenden Film wahr, an dem sie direkt beteiligt ist. Aus der westlichen Beobachterposition hingegen sieht die Wirklichkeit wie eine Serie von Momentaufnahmen aus. Der räumliche und zeitliche Abstand, den wir überblicken, erlaubt uns eine Konzentration auf das Wesentliche, ermöglicht einen Blick in die Weite, die dem chinesischen Menschen verunmöglich ist. Er hat hingegen eine Einschätzung eines aktuellen Moments, die der unseren weit überlegen ist. Dies ist ein Grund, warum sich westliche Geschäftsdelegationen auf Gespräche mit chinesischen Partnern sehr sorgfältig vorbereiten müssen. Unstimmigkeiten in der Delegation, oder unterschiedliche Meinungen in derselben, werden vom chinesischen Gegenüber sofort erfasst. Deshalb müssen in einer westlichen Gruppe vorgängig klare Sprachregelungen getroffen werden, um eventuelle Unstimmigkeiten nicht zu zeigen.
Diesen Unterschied im Wahrnehmen der Distanz und der Zeit erleben wir selbst sehr eindrücklich, wenn wir im Zug sitzen. Die Landschaft und die Häuser, die relativ weit vom Geleise entfernt sind, sehen wir sehr deutlich. Der Leitungsmast hingegen, der nahe am Bahndamm steht, wird kaum wahrgenommen, er wird mehr erspürt. Da war etwas, aber richtig gesehen haben wir es nicht. Das Erfassen des Mastes findet anders statt, als das Sehen der entfernteren Häuser. Je schneller der Zug fährt, desto stärker ist der Unterschied zwischen diesen beiden Eindrücken.
Bild: Auswirkungen der Nähe und Ferne eines Objekt auf dessen Wahrnehmung Die Pappeln am Strassenrand werden nur als Schemen wahrgenommen, während die fernere Gruppe deutlich sichtbar ist
Damit soll nicht gesagt werden, das chinesische Hirn funktioniere anders als unseres. Die neuronalen Grundlagen sind dieselben. Aber die äusseren Einflüsse sind anders und werden anders verarbeitet. Das logisch-rationale Verarbeiten von Informationen durch westliche Menschen basiert auf einer reduzierten, bereits vorgefilterten Informationsaufnahme, während der Informationsfluss einer dichten asiatischen Umgebung nur noch
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