Leitfaden China
hat die amerikanische Ethnologie schon in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg eine Unterscheidung in Schuld- und Schamkulturen vorgenommen. Ruth Benedict hat die Unterscheidung mit Bezug auf die japanische Kultur in ihrem Standardwerk «Die Chrysantheme und das Schwert» (1946) ausführlich behandelt.
Auch wenn jede Kultur Schuld und Scham kennt, geht sie davon aus, dass westliche Kulturen im wesentlichen Schuldkulturen sind, während die ostasiatischen Kulturen eigentliche Schamkulturen darstellen. Schuld basiert darauf, dass eine Person die Gesetze der Gesellschaft internalisiert hat, während Scham allein auf den Normen einer Gruppe beruht. Scham empfindet demnach eine Person, wenn sie das Gefühl hat, den Wertmustern ihrer Gruppe nicht nachgekommen zu sein. Schuld ist hingegen das Gefühl, das aufkommt, wenn sie die von der Gesellschaft aufgestellten Gesetze auf Grund einer Internalisierung derselben nicht befolgt hat. Schuld kann durch eine korrigierende Handlung, eine Strafe oder eine Entschuldigung aufgehoben werden, Scham als eigenes Gefühl ist hingegen nicht so leicht korrigierbar, da ein Nachaussen-Tragen derselben die Person erst recht blossstellt und kompromittiert, und damit das Problem vergrössert, anstatt einen Läuterungsprozess und eine Erleichterung zu bringen.
Auf diesem Unterschied zwischen Schuld- und Schamkultur beruht übrigens die völlig andere Art der Vergangenenheitsbewältigung zwischen Deutschland und Japan in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg. Deutschlands Vergangenheitsbewältigung gleicht manchmal noch heute einer Selbstzerfleischung, während Japan, ebenfalls etwas übertrieben ausgedrückt, auch heute noch lieber über diese Vergangenheit schweigt.
Auf Grund der klareren Eigen- und Fremdgruppenunterscheidung kann man deshalb sagen, dass ein Asiate wesentlich weniger Schuldgefühle hat, denn der Aussenbereich zur Eigengruppe wird als Freiraum ohne soziale Bindungen verstanden. Das heisst, dass alles, was in einer breiteren Gesellschaft vorgeschrieben ist, im wesentlichen nicht wahrgenommen wird. Nur die Normen, die Erwartungen der eigenen Gruppe, sind mit dem Schamgefühl zu beachten, an ihnen hat sich die Einzelperson auszurichten. Der Rest zählt nicht.
Dies ist für viele in China in Führungspositionen arbeitende Ausländer offensichtlich. Sie versuchen gar nicht, an die Schuldgefühle chinesischer Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen zu appellieren. Hingegen arbeiten sie stark mit ihrem Schamgefühl. Wenn sich ein Chef gegenüber einem Kunden entschuldigt, weil ein Fabrikationsfehler erfolgt ist und dies entsprechend kommuniziert wird, entstehen starke Schamgefühle bei den betroffenen Personen, die nur durch längerfristige fehlerfreie Leistung korrigiert werden können. Das Ehrgefühl, das dabei angesprochen wird, ist das komplementäre Element zur empfundenen Scham.
Grösserer Gesichtsverlust in Asien als in Europa
Der Unterschied in Schuld- und Schamkulturen wirkt sich täglich aus. Wenn ich einen asiatischen Mitarbeiter vor anderen Angestellten kritisiere, weil er den vorliegenden Auftrag falsch angegangen hat, verliert er sein Gesicht. Wenn Kritik zu deutlich formuliert wird und wenn sie vor allem in Anwesenheit von anderen Gruppenmitgliedern ausgedrückt wird, kann sie bei einer asiatischen Person schnell zu einem Gesichtsverlust werden. Das Vermeiden von Gesichtsverlust in Asien kann so weit gehen, dass man die Kritik der betreffenden Person gar nicht mitteilt, sondern eine Person aus ihrer Umgebung in sehr indirekter Weise auf die geschaffene problematische Situation aufmerksam macht. Kritik ist in keiner Gesellschaft und zu keinem Zeitpunkt für die kritisierte Person lustig, selbst wenn man sie anerkennt oder sie sogar positiv als Möglichkeit der Verbesserung eines Tatbestandes oder einer Handlung versteht. Innerhalb einer asiatischen Gruppe ist eine kritische Haltung jedoch doppelt gefährlich, da sie im Grunde die Harmonie derselben gefährdet.
Es hat deshalb einen guten Grund, von einem grösseren Gesichtsverlust in Asien zu sprechen, als dies für europäische Gesellschaften in der gleichen Situation der Fall wäre. Man verliert sein Gesicht gegenüber der Gruppe, wenn man ihren Erwartungen nicht nachkommt. Man stört damit die innere Harmonie, was nicht gut ankommt und der betreffenden Person auch unmissverständlich klar gemacht wird. Auch an diesem Sachverhalt wird wieder deutlich, dass der Druck der umgebenden Gruppe in Asien wesentlich grösser ist als in
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