Lelord, Francois
Jean-Michel sah immer
noch sehr gut aus - mit seinem festen Blick, seiner athletischen Figur und
einem Gesicht, das die antiken Bildhauer gereizt hätte. Er war mehr als nur
Jean-Michel, dachte Hector, er war der Erzengel Michael, denn Jean-Michel hatte
auch ein gutes Herz, und über seine Kraft und seine Schönheit strahlte auch
seine Gutherzigkeit nach außen. Wie hätte sich eine Frau davon nicht angezogen
fühlen sollen?
Das
Problem war nur, dass Jean-Michel keine Frauen liebte. »Ach, was für eine
Verschwendung!«, hatte eine mal leise zu Hector gesagt, nachdem sie sich lange
vergeblich bemüht hatte, Jean-Michels Interesse zu wecken.
Aber das
war ein Thema, das sie beide niemals ansprachen; Hector wusste Bescheid,
Jean-Michel wusste, dass Hector Bescheid wusste, und doch war es wie eine
Tabuzone, ein Landstrich, der außerhalb des Territoriums ihrer Freundschaft
lag.
»Ihr Mann
hat sie angesteckt«, sagte Jean-Michel. »Das kommt hier ziemlich oft vor. Bei
ihm selbst ist es noch nicht ausgebrochen.«
»Ist sie
ihm böse deswegen?«
»Nein. Er
besucht sie übrigens auch jeden Tag. Das kommt schon viel seltener vor.«
Am anderen
Ende des Zimmers führte eine Tür zur Toilette und zur Duschkabine, die nach
außen offen waren. Auf dem gefliesten Boden neben der Dusche erblickte Hector Küchengeräte,
einen kleinen Kocher, an einem Faden hingen Trockenfische.
»Das ist
ein Krankenhaus, in dem jeder Patient, was die Ernährung betrifft, auf sich
selbst und seine Familie angewiesen ist«, sagte Jean-Michel, als er aus dem
Zimmer trat.
Im langen
Flur, über den Streifen aus Licht fielen, entdeckte Hector kleine Ansammlungen
von Schuhen vor jeder Zimmertür. Es handelte sich um die Schuhe der
Familienmitglieder, die gerade zu Besuch waren, um den Kranken Gesellschaft zu
leisten und ein paar Lebensmittel mitzubringen.
»Und wo
sind die anderen Arzte?«, wollte Hector wissen.
»Um diese
Tageszeit sitzen sie schon wieder in ihren Stadtpraxen und kümmern sich um die
Privatpatienten«, sagte Jean-Michel mit einem traurigen Lächeln. »Aber man muss
sie verstehen, auch sie haben eine Familie zu ernähren, und mit dem Gehalt, das
man an einem staatlichen Krankenhaus bekommt...«
Während
sie weiter durch den Flur schritten, begann sich ein wahrer Menschenstrom aus
den Zimmern zu ergießen, und all diese Leute - Ehemänner, Mütter, Schwestern,
Brüder, Töchter - wollten den Erzengel Michael sehen, mit ihm sprechen oder
ihn sogar berühren, als ob schon seine Ausstrahlung genügte, um ihre
Angehörigen zu retten. Jean-Michel hatte für jeden von ihnen ein gutes Wort,
kündigte seine Rückkehr an und schaffte es, alle zu beruhigen; die Gesichter
hellten sich auf, die Kinder lachten, alte Männer und junge Frauen falteten mit
einem glücklichen Lächeln die Hände.
Sie
besuchten dann noch andere Krankenzimmer: hier einen jungen Mann mit trauriger
Miene, der als Lastwagenfahrer gearbeitet hatte und noch immer eine Familie
durchbringen musste, dort einen intelligent aussehenden Mann um die vierzig,
der auf dem Bau geschuftet hatte, um seine zahlreichen Kinder zu ernähren, und
der sich dort mit mehreren seiner Kameraden infiziert hatte, weil sie, um die
Schmerzen und die Müdigkeit zu vergessen, jeden Abend ein bisschen Heroin
genommen hatten - mit einer Spritze, die einer dem anderen weitergereicht
hatte.
Schließlich
kamen sie ins Zimmer eines blutjungen, vollkommen verschüchtert wirkenden
Mädchens.
»Sie ist
nicht von hier«, sagte Jean-Michel. »Menschenhändler haben sie aus einem
Nachbarland hierherverschleppt. Wir versuchen ihre Familie ausfindig zu
machen.«
Hector betrachtete
die junge Frau: Wie sie mit blassem Gesicht und großen schwarzen Augen dalag,
schien sie sich entschuldigen zu wollen, dass sie zu erschöpft war, zur Begrüßung
aufzustehen. Jean-Michel erklärte Hector, dass man sie aus einem Bordell geholt
hatte, in dem sie mit vierzig weiteren Frauen eingesperrt gewesen war; die
jüngsten waren gerade mal dreizehn gewesen.
In diesem
Augenblick ging die Tür auf, und Leutnant Ardanarinja betrat das Zimmer.
Nein, und
dann war sie es doch nicht, sondern ihre ältere Schwester, jedenfalls aber eine
Frau, die ihr ganz verblüffend ähnlich sah: die gleiche goldfarbene Haut, das
gleiche ikonenhafte Gesicht und das gleiche perfekte Lächeln. Die junge Patientin
richtete sich sofort in ihrem Bett auf und streckte ihr die Hand entgegen, und
die Frau schloss sie in die Arme und sprach mit sanften
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