Lelord, Francois
ein bisschen, wenn wir uns treffen. Ihnen macht es mehr
Spaß, mich zu sehen, als umgekehrt. Gleichzeitig mag ich sie natürlich, und
ich glaube, ich wäre auch bereit, ihnen im Notfall zu helfen. Aber sind sie
meine Freunde? Was fehlt mir an ihnen, um sie zu meinen Freunden zu zählen? Hingegen
macht es mir jedes Mal Vergnügen, Florence zu sehen, die Frau Deines Kollegen
Arnaud; wir führen interessante Gespräche, ich gehe gern mit ihr shoppen, und
doch glaube ich nicht, dass sie mir im entscheidenden Moment groß helfen würde.
Das erinnert mich im Grunde daran,
was wir im Philosophieunterricht über Aristoteles gelernt haben: Er
unterschied Freundschaften, die sich auf Vergnügen gründen, Freundschaften,
die auf dem Nutzen beruhen, und tugendhafte Freundschaften, wobei die Letzteren
in seinen Augen natürlich die wahren Freundschaften sind. Mit jenen
langjährigen Freunden, die mich ein bisschen langweilen, pflege ich vielleicht
solche tugendhaften Freundschaften; wir sind bereit, einander auf
uneigennützige Weise Gutes zu tun, und es herrscht ein gegenseitiges
Wohlwollen. Mit Florence hingegen verbindet mich eine Freundschaft, die aus
dem miteinander geteilten Vergnügen entspringt. Der gute Aristoteles meint,
dass sie verschwinden kann, sobald einer der Freunde kein Vergnügen mehr an ihr
findet. Was nun die Freundschaften betrifft, die auf Nützlichkeit gegründet
sind (oder, wenn man so will, auf Eigeninteresse), so kommt bei ihnen jeder
auf seine Rechnung: Geschäftspartner, Arbeitskollegen ... Auch hier ist es so,
dass man sich meistens nicht länger trifft, wenn man keinen Nutzen mehr voneinander
hat. Und schließlich erinnert Aristoteles uns daran, dass Freundschaft
natürlich immer nur existiert, wenn sie gegenseitig ist und wenn man sie dem
anderen offen zeigt.
Clara
hielt sich selbst nicht für besonders schlau, was Hector erstaunte, half sie
ihm doch immer sehr beim Nachdenken. Vor seiner Abreise hatte er sich
vorgenommen, das Thema Freundschaft im Blick zu behalten - diesen so wichtigen
Gegenstand, über den aber die Psychologen so wenig geschrieben haben, anders
als über die Liebe beispielsweise, und Clara hatte die Idee sehr gut gefunden.
Das
Bakelittelefon begann rasselnd zu klingeln.
»Was ist
los, alter Junge, willst du lieber im Hotel bleiben und rumfaulenzen, als das
wirkliche Leben zu sehen?«
Wie immer
freute Hector sich, die Stimme von Jean-Michel zu hören. Und obwohl alle Welt
beim Thema Freundschaft immer zuerst von der gegenseitigen Hilfe in der Not
sprach, musste man doch zunächst einmal eines anerkennen:
Beobachtung
Nr. 3: Ein Freund ist jemand, den du
gerne siehst.
Und
natürlich musste die Freude beiderseits sein. Allein damit, jemanden gern zu
sehen, konnte man Freundschaft natürlich nicht ausreichend beschreiben. Und
zumindest eine Weile lang konnte es auch vergnüglich sein, Umgang mit einem
amüsanten Scheißkerl zu haben, jedenfalls vergnüglicher als mit einer
tugendhaften, aber langweiligen Person.
Aber was
hatte es eigentlich genau mit dieser Freude, einen Freund zu sehen, auf sich?
Hector, der Erzengel und das junge Mädchen
»Das ist
das Problem mit der antiretroviralen Therapie«, sagte Jean-Michel. »Wenn man
diese Medikamente zum ersten Mal Patienten gibt, die sie eigentlich schon viel
früher gebraucht hätten ... Ihr Immunsystem aktiviert sich, und alles entzündet
sich.«
Sie saßen
jetzt beide in einem Krankenhaus, das einstmals von dem sozialistischen Großen
Bruderland errichtet worden war, und zwar angepasst an die besonderen
Bedingungen der Tropen - mit freien Außentreppen und zierlich durchbrochenen
Mauern, damit die Luft und die Mücken ungehindert zirkulieren konnten. Hector hatte
ähnliche Bauten bereits in Afrika gesehen.
Die
Patientin war eine hochgewachsene, ausgezehrte Frau mit dunkler Haut und
ebenholzfarbenem Haar, wodurch ihr weißes Lächeln noch strahlender wirkte,
obwohl ihre Stirn schweißbedeckt war und ihr Atem hektisch und flach ging.
Mehrere Infusionsflaschen hingen über ihrem Kopf. Sie schien sehr froh zu sein,
Jean-Michel zu sehen. Er unterhielt sich mit ihr auf Khmer, während er den
Tropf kontrollierte.
Neben
ihnen stand die Krankenschwester, eine fröhlich wirkende, pummelige, kleine
Frau; sie half Jean-Michel, wenn er einmal nicht das richtige Wort fand. Auch
sie schien entzückt zu sein, an der Seite dieses Mannes zu stehen. Wenn Hector
seinen Freund so anschaute, war ihm auch klar, warum.
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