Lelord, Francois
ganz junge
Frau im Krankenhauszimmer bei Jean-Michel einfiel.
»Die sind
nicht hier«, sagte Brice, »die leben in geschlossenen Bordellen, zu denen nur
Asiaten Zutritt haben. Manche von denen glauben nämlich, je jünger das Mädchen,
desto besser für die Gesundheit. Es gibt sogar einen richtigen Markt für
Jungfrauen ...«
»Ja«,
sagte Hector, »davon habe ich auch schon gehört.«
»Der
europäische und nordamerikanische Sextourismus macht nur einen winzigen Teil
der Prostitution in Asien aus und nicht den schmutzigsten, das kannst du mir
glauben. Aber natürlich kommt es immer gut an, mit dem Finger auf den Mann aus
der westlichen Welt zu zeigen, vor allem weil er ja auch auffällt. Ich rede
hier natürlich nicht von den Pädophilen, das ist eine ganz andere Sache.«
Als Hector
noch im Krankenhaus gearbeitet hatte, waren auch pädophile Patienten bei ihm in
Behandlung gewesen; sie hatten auf gerichtliche Anordnung in seine Sprechstunde
kommen müssen, und er wusste tatsächlich, dass dies eine andere Welt war und
dass man in der Straße der Dolly-Dolly-Bar und an
ähnlichen Orten keine Pädophilen fand.
»Und wenn
es nun eine vernünftige Sozialversicherung gäbe?«, wollte Hector wissen.
»Nun ja,
dann würde das Gleiche wie in Europa passieren - es gäbe nur noch ausländische
Prostituierte, die aus Ländern ohne Sozialversicherung kommen. Und diese armen
Dinger sind dann wirklich fast immer Opfer von Menschenhändlern.«
»Das beste
Mittel, um gegen Prostitution zu kämpfen, ist also ...«
»... eine
Menge Steuern zu zahlen!«, sagte Brice. »Und natürlich auch, einen anständigen
Mindestlohn einzuführen. Und die beste Waffe gegen den Menschenhandel ist, dass
du dich immer nur mit Frauen einlässt, die von dort kommen, wo du dich gerade
befindest, und selbstverständlich nur mit volljährigen.«
»Ich sehe,
dass du dir dein Moralgefühl bewahrt hast«, sagte Hector.
»Willst du
dich über mich lustig machen?«, fragte Brice, und Hector spürte den Schmerz,
der in dieser Frage mitschwang.
»Nein,
überhaupt nicht, ich glaube es ganz ernsthaft. Ich weiß, dass du immer versucht
hast, nichts Schlimmes anzurichten.«
»Danke,
mein Freund. Ich gebe ja zu, dass es mir nicht immer gelungen ist...«
Hector fand,
dass Brice nicht der Klischeevorstellung ent sprach,
wonach Männer, die zu Prostituierten gehen, auf normalem Wege keine Frau
erobern können. Er spürte, dass Brice immer noch die Selbstsicherheit des
Verführers besaß, und auch seine witzige Art und seine schönen blauen Augen waren
noch wie früher. Und überhaupt hatte Hector im Dolly
Dolly und auf der Straße vor den Bars so manchen durchaus
vorzeigbaren Mann gesehen.
»Wenn man
von Prostitution spricht«, sagte Brice, »dann ist immer das gemeint, was vor
dem Liebemachen geschieht: Man zahlt, damit man nicht überzeugen muss. Aber nie
das Danach: Man zahlt, damit man keine Schulden hinterlässt, vor allem keine
Gefühlsschulden. Für einen Mann heißt Prostitution Sex ohne Schulden, was es
in einer normalen Beziehung fast nicht gibt. Eine Frau zu bezahlen, ist das
beste Mittel, sie nicht zu enttäuschen, ihr nichts vorzumachen, keine falschen
Hoffnungen zu nähren - kurz und gut, keinen Schaden anzurichten!«
Hector spürte,
dass Brice über diese Moraltheorie lange nachgedacht hatte und dass er
Befriedigung und sogar Erleichterung empfand, wenn er sie Hector erläuterte,
um sich damit vor den Augen eines Freundes, aber zugleich vor seinen eigenen
Augen rechtfertigen zu können. Wie jeder (oder zumindest fast jeder) Mensch
suchte Brice nach einer moralischen Rechtfertigung für sein Handeln. Immerhin
ist man ja auch der Freund seiner selbst, und da wir schon wissen, dass es
wichtig ist, was unsere Freunde von uns halten, versucht auch jeder, eine gute
Meinung von sich selbst zu haben - außer den depressiven Menschen, denen genau
das nicht mehr gelingt.
Sie
schwiegen eine Weile. Ungeachtet aller Dinge, die Hector über Brice wusste,
und trotz der Entdeckungen dieses Abends merkte er, dass er noch immer
freundschaftliche Gefühle für Brice hegte. Nach Aristoteles konnte das keine
tugendhafte Freundschaft sein, denn Brice wandelte ganz eindeutig nicht mehr
auf dem Pfad der Tugend. Indem er aber versucht hatte, sich vor Hector und vor
sich selbst zu rechtfertigen, hatte er bewiesen, dass er immer noch nach
Tugend strebte. Hector sagte sich, dass er keine freundschaftlichen Gefühle für
Brice mehr verspüren könnte, wenn dieser
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