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Lelord, Francois

Lelord, Francois

Titel: Lelord, Francois Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hector
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Wohnung eines Junggesellen, der sich nicht die Zeit genommen
hat, sich wirklich einzurichten.
    Lek und
Nok waren in einem anderen Zimmer verschwunden. Hector sagte sich, dass Brice
bestimmt darauf brannte, ihnen folgen zu können, und so schickte er sich zum
Gehen an, aber nein, offenbar wollte Brice noch ein wenig mit ihm reden.
    Hector dachte
an die Zeit, als Brice ein brillanter Fachkollege gewesen war. Brice hatte das
gehabt, was man eine »exklusive Kundschaft« nannte - ein Ausdruck, den Hector nie
gemocht hatte -; er führte eine Praxis in einem der wohlhabendsten Viertel der
Hauptstadt und trug immer Einstecktücher, die dezent auf die Krawatte
abgestimmt waren. Man hätte ihn als Schickeria-Psychiater bezeichnen können,
aber damit hätte man ihm unrecht getan. Er war ein hervorragender Diagnostiker
und fand schnell heraus, welchen Patienten er rasch Linderung verschaffen
konnte und welches die schwierigeren Fälle waren. Letztere reichte er an seine
jüngeren Kollegen weiter, die wiederum glücklich waren, sich auf diese Weise
einen Kundenstamm aufzubauen und Brice beweisen zu können, dass sie sein
Vertrauen verdient hatten.
    Außerdem
war Brice Anteilseigner einer Klinik, die eigentlich eher ein kleines Schloss
war und in die er zweimal pro Woche fuhr, um die Patienten aufzumuntern. Meist
war es ihm nicht schwergefallen, sie davon zu überzeugen, dass sie dort besser
aufgehoben waren als im Krankenhaus, denn sie fanden es völlig normal, für die
Art von Zimmern, die sie ohnehin gewohnt waren, die Preise eines
Fünfsternehotels zu zahlen.
    Brice war
auch regelmäßig im Fernsehen, und sein magnetisierender Blick wirkte bei den
gemarterten Seelen wahre Wunder. Natürlich hatte er auch Neider, aber trotzdem
wurde er wegen seines Erfolgs und seiner Kompetenz allgemein geschätzt. Auch
wenn Hector verstand, dass manch einer Brice verabscheute, fand er selbst doch,
dass sein Kollege nie etwas zum Schaden der Kranken getan hatte - er verstand
es einfach, seine Praxis wie ein Geschäftsmann zu führen. »Und die Patienten
mit wenig Geld?«, werden Sie jetzt fragen. Nun, einen Nachmittag pro Woche
hielt Brice eine Gratissprechstunde im staatlichen Krankenhaus ab, und für die
gab es eine Warteliste von vier Monaten.
    Hector und
Brice hatten sich auf dem Gymnasium kennengelernt, während des Studiums jedoch
aus den Augen verloren. Sie waren sich wiederbegegnet, als Hector seine Praxis
eröffnet hatte; er kam damals frisch aus der Provinz und kannte in der
Hauptstadt kaum jemanden. Brice hatte ihm sofort unter die Arme gegriffen,
indem er Patienten zu ihm geschickt hatte, und zwar nicht die kniffligen oder
hoffnungslosen Fälle, sondern Menschen, denen Hector wirklich helfen konnte,
was seinen Ruf und seinen Patientenstamm sehr bald vergrößert hatte. Brice war
ganz der tugendhafte Freund nach Aristoteles gewesen - er hatte allgemein Gutes
getan und darüber hinaus auf uneigennützige Weise für das Wohl seines Freundes
gesorgt.
    Außerdem
war Brice witzig und geistreich; er freute sich immer, Hector zu sehen, und
hatte eine unangepasste Sicht auf die Dinge, obgleich sein eigenes Leben so
angepasst schien. Für Hector gehörte er zu den ernsthaften Leuten, die sich
selbst nicht ernst nehmen - also zu seiner Lieblingskategorie, wenn man die
anderen drei möglichen Kombinationen dagegenhält. (Denken Sie mal über diese
Klassifizierung nach, sie kann Ihr Leben verändern!)
    Eines
Tages jedoch begann diese ganze schöne Existenz zu bröckeln. Eine Patientin
hatte Brice wegen sexueller Belästigung angezeigt. Die Medien hatten sich
sofort darauf gestürzt, wegen der Berühmtheit von Brice war die Sache ein
gefundenes Fressen. Er war zuerst von der Ärztekammer angehört worden und dann
von einem Richter. Dabei kam ans Licht, dass er über mehrere Monate hinweg ein
Verhältnis mit der Klägerin gehabt hatte. »Aber niemals in meinem Sprechzimmer«,
wie er Hector erklärte, als sie sich damals spätabends in einer Bar trafen. Da
hatte Brice schon nicht mehr viele Freunde, mit denen er sich treffen konnte.
Die Frau hatte Anzeige erstattet, als Brice sich von ihr trennen wollte. Das
Verfahren sollte eingestellt werden, die Ärztekammer wollte sich mit einer Rüge
begnügen, aber plötzlich erstattete eine weitere Patientin Anzeige - und dann
noch eine und noch eine ...
    »Sie
hatten ja weder Depressionen noch Wahnvorstellungen«, versuchte er Hector später
zu erklären. »Einfach nur Frauen, die nicht genug Liebe

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