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Lelord, Francois

Lelord, Francois

Titel: Lelord, Francois Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hector
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früher«, meinte Valerie, und Hector dachte
an seine Beobachtung Nr. 2:
    Ein wahrer
Freund ist bereit, Opfer für dich zu bringen oder sich deinetwegen sogar in
Gefahr zu begeben.
    Als er das
aufgeschrieben hatte, hatte er sich gesagt, dass dieser Punkt, der vielen
Menschen so wichtig war, wenn sie Freundschaft definieren wollten, für ihn
selbst glücklicherweise noch nie aktuell geworden war; er hatte über die üblichen
Sorgen und Bekümmernisse des Daseins hinaus noch nie einen richtig schlimmen
Schicksalsschlag einstecken müssen. Er hoffte, dass ihm und seiner kleinen
Familie auch weiterhin jede Tragödie erspart bleiben würde, und richtete sicherheitshalber
ein stilles Gebet an das Götterbild auf dem Armaturenbrett.
    Dann
musste er wieder daran denken, wie verkniffen Brice dreingeschaut hatte, als er
ihm von der Lady berichtet hatte. Der erste Impuls des Neides - und überhaupt
aller Emotionen: Zorn, Freude, Traurigkeit - lässt sich nicht kontrollieren,
und man kann niemandem vorwerfen, so etwas zu verspüren. Es kam darauf an, was
man aus den folgenden Sekunden machte, und Brice hatte dann vorgeschlagen, ihm
zu helfen. Das brachte Hector auf die
     
    Beobachtung
Nr. 12: Ein Freund ist jemand, der sich nicht von seinem Neid beherrschen
lässt.
     
    Dann
überlegte Hector noch, dass auf Jean-Michel und Valerie die Beobachtung
Nr. 9 aufs Schönste passte: Einen
wahren Freund betrübt dein Unglück so, wie ihn dein Glück erfreut.
    Hochzufrieden
mit dieser Erkenntnis, entschlummerte er sanft und selig.
     
    Hector im Land der Elefanten
     
    Als er die Augen wieder aufschlug, hatten sie die Autobahn
verlassen. Die Landstraße schlängelte sich um waldbedeckte Hügel, die
allmählich von immer steileren Berggraten abgelöst wurden. Die Landschaft
wurde archaisch: Holzhäuser auf Pfählen, Kinder, die im Schatten der Bäume an
Bachufern badeten. Buckelige Kühe sah man jetzt nicht mehr, dafür aber
steingraue Büffel. Hector erblickte seinen ersten Elefanten, der mit einem
Mahut auf dem Nacken einen Waldsaum entlangwandelte. Man setzte die Elefanten
hier ein, um Baumstämme aus dem Dschungel zu ziehen, denn an viele Stellen
hätte kein Kraftwagen vordringen können. Als Hector dieses so intelligente Tier
den Waldrand entlangtrotten sah, musste er daran denken, dass dessen
Artgenossen auf der anderen Seite der Grenze dazu benutzt wurden, den eigenen
Lebensraum zu zerstören.
    »Auf einem
Elefanten würde ich gern mal eine Runde drehen«, sagte Brice. »Das muss ein
tolles Erlebnis sein!«
    Hector wusste
ja, dass Brice in der Kategorie »Offenheit für neue Erfahrungen« einen sehr
hohen Wert erreichte - wahrscheinlich einen zu hohen, um lange als normaler Psychiater
arbeiten zu können.
    »Ja«,
sagte Valerie, »ein Erlebnis ist es schon. Solange der Elefant sich in der
Ebene fortbewegt, geht es ja noch, und selbst da schaukelt es schon tüchtig.
Aber sobald es durch unwegsames Gelände geht, bekommst du es mit der Angst
oder mit der Übelkeit zu tun.«
    »Du hast
wirklich einen spannenden Beruf«, meinte Brice.
    »Ja,
gewiss, aber es wäre schön, wenn ich auch davon leben könnte.«
    »Das ließe
sich doch leicht erreichen«, sagte Brice. »Du müsstest die Leute einfach davon
überzeugen, dass die Dinge, die du so auftreibst, außerordentlich kostbar sind.
Ich sage bewusst nicht, dass du auch anfangen sollst, sie so billig wie möglich
einzukaufen, denn ich weiß, dass du das nicht könntest.«
    »Als
Psychiater bist du gar nicht so schlecht«, sagte Valerie.
    »Ach, ich
weiß nicht - aber ich glaube, dass ich kein schlechter Geschäftsmann wäre.«
    Hector freute
sich über dieses Gespräch, denn es schien ihm eine Versöhnung zu bedeuten. Man
hatte ihn nicht groß aufklären müssen, damit er erriet, was wohl zwischen
Brice und Valerie vorgefallen war. Wahrscheinlich hatte Brice auch sie
überzeugt, dass sie die Einzige sei ... Und es hatte funktioniert, bis Valerie
gemerkt hatte, dass sie lediglich die Einzige war, die keine Nummer trug.
    Und
plötzlich konnte man zwischen all dem Blattwerk auch Dächer aus Blattwerk
ausmachen und dann Hunderte von Häusern, die eng aneinandergedrängt standen und
die Hügel links und rechts der Straße überzogen.
    »Das
Flüchtlingslager«, sagte Valerie.
    Sie
erklärte ihnen, dass das Lager nun schon über zwanzig Jahre bestand und noch
immer wuchs, denn jedes Mal, wenn auf der anderen Seite der Grenze die
offizielle Armee und die Befreiungsarmee ihren Krieg neu aufleben

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