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Lelord, Francois

Lelord, Francois

Titel: Lelord, Francois Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hector
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fragt er sich aber auch, ob die Erinne rung an
die einstige Nähe uns nicht dazu bringt, für den, der uns enttäuscht hat,
weiterhin freundschaftliche Gefühle zu empfinden.
    Warum also
verspürte er für Brice trotz allem noch immer einen Rest von solchen
freundschaftlichen Gefühlen? Fehlte seiner Sicht auf die Freundschaft noch eine
Dimension? Die der Treue vielleicht? Aber war Treue um der Treue willen zu
rechtfertigen?
    Zunächst
einmal musste er jedoch seine letzte Beobachtung notieren, die ein Resümee und
eine Schlussfolgerung aus allen anderen war:
     
    Beobachtung Nr. 22: Freundschaft
speist sich aus einer Mischung aus gemeinsam geteiltem Vergnügen, gegenseitigem
Wohlwollen, Wertschätzung und Bewunderung.
     
    Dann
fielen ihm die Augen zu, und er träumte von Elefanten.
     
    Hector kehrt zurück
     
    »Ich glaube, am Ende hat er verstanden, dass es nicht
geht.«
    Das war
Karine mit ihrem etwas zu intelligenten Blick und ihrer leicht roboterhaften
Stimme. Seit Hectors Abreise hatte sie den Kollegen, der sich für sie
interessierte, regelmäßig getroffen, statt unverzüglich jeden Kontakt
abzubrechen, wie es ihre Gewohnheit gewesen war - ein Verhalten, das Hector ihr
mehr oder weniger direkt auszureden versucht hatte. Welch ein Vergnügen, wenn
ein Patient die Ratschläge seines Arztes befolgte! Leider passierte das Hector
nicht immer.
    »Im Grunde
glaube ich, dass wir Freunde bleiben werden. Ich unterhalte mich gern mit ihm.«
    Karine
hatte die Zahl ihrer nicht virtuellen Freunde also gerade verdoppelt, und
Hector fragte sich, welche Veränderungen das in ihr auslösen würde. Er gab ihr
auch das Facebook-Profil von Mademoiselle Jung-In Park, die er vorgewarnt
hatte. Der Dialog zwischen Aristoteles und dem heiligen Thomas von Aquin
bliebe also im Gange.
    »Im Moment
geht es mir besser, ich fühle mich nicht mehr so verletzlich.«
    Das war
Julie, und Hector musste einmal mehr feststellen, dass es manchen Patienten
besser ging, wenn er eine Weile auf Reisen gewesen war. Wäre er depressiv
gewesen, hätte das in ihm ernste Fragen über den Sinn seiner Arbeit ausgelöst.
    Julie
erzählte ihm, dass sie eines Abends ziemlich melancholisch von der Arbeit
heimgekommen war, denn außer der Freundin, bei der sie gleich ein Glas Wein
trinken würde, hatte ihr niemand zum Geburtstag gratuliert. Aber sie hatte kaum
die dunkle Wohnung betreten, als die Lichter angingen und ein ganzer Trupp von
Freunden und Freundinnen »Happy birthday, Julie« zu singen begann.
Natürlich hatte diese Überraschung sie auch ein wenig erschreckt, und es hatte
ihr ein bisschen Unbehagen bereitet, so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu
stehen. Aber hinterher hatte die Vorstellung, dass alle es irgendwie arrangiert
hatten, für sie da zu sein, bei ihr einen heilsamen und vielleicht sogar
dauerhaften emotionalen Schock ausgelöst. Hector musste das für den Fortgang
der Therapie natürlich ausnutzen.
    Roger
hatte sich nicht besonders verändert. Jedenfalls kam es Hector so vor, denn er
bat ihn, die Dosis herabzusetzen, was zwischen ihnen ein häufiger
Verhandlungsgegenstand war. Gewöhnlich endete es dann mit einem Versuch, und
dieser Versuch schlug meistens fehl. Allerdings war Roger inzwischen bereit,
die Basisbehandlung wiederaufzunehmen, sobald seine Gespräche mit Gott allzu
zwanghaft wurden. Es war ein Paradoxon, das Hector immer in Erstaunen
versetzte: Roger wusste, dass er eine geistige Störung hatte, die behandelt
werden musste, aber das ließ ihn nicht um ein Jota von seiner Überzeugung
abrücken, dass er tatsächlich Gottes Wort vernahm. Hector wusste auch noch, was
Roger auf die Frage nach seinen Freunden geantwortet hatte. »Auf jeden Fall
stehe ich voll und ganz in der Freundschaft Gottes, und die ist ohne Grenzen«,
hatte er gesagt und: »Ich empfange mehr, als ich gebe.«
    Hector
fragte Roger, ob er schon etwas vom heiligen Thomas von Aquin gehört habe.
    »Natürlich.
Thomas, das ist übrigens mein zweiter Vorname, und damit haben meine Eltern
genau diesen Thomas gemeint.«
    Als Hector
Rogers imposante Statur so betrachtete, musste er an den Spitznamen denken, den
der ebenso imposante Thomas von Aquin als junger Student von seinen Kommilitonen
verpasst bekommen hatte - den »stummen Ochsen« hatten sie ihn genannt. Roger
freilich war keineswegs stumm, und sein Brüllen würde auch niemals die
abendländische Philosophie umwälzen (das hatte sein Lehrer den spottlustigen
Mitstudenten des Aquinaten nämlich

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