Lelord, Francois
gehen.
Beobachtung
Nr. 18: Ein Freund ist jemand, der dich um Entschuldigung bitten kann.
Beobachtung
Nr. 19: Ein(e) Freund(in) ist jemand, dem (der) du oft dankbar bist.
Beobachtung
Nr. 20: Ein Freund ist jemand, der dich zu trösten versteht.
Beobachtung
Nr. 21: Ein Freund ist jemand, mit dem du gerne und oft lachst.
Er las sie
ein zweites Mal, und allmählich zeichneten sich vor seinen Augen drei
Kategorien ab.
Manche
seiner Beobachtungen hatten etwas mit dem Vergnügen zu tun, dass man zusammen
war oder gemeinsam etwas unternahm. Bisweilen beschränkte sich die Freundschaft
auch darauf, und die Freunde verstanden sich gut, wenn sie Tennis spielten, auf
die Jagd gingen, angelten, über ihre Lieblingsthemen sprachen oder sogar Liebe
machten - ohne ein anderes Band als das immerhin so kostbare Gut des gemeinsamen
Vergnügens. Diese Dimension des Vergnügens (Aristoteles' berühmte
»Lustfreundschaften«) war für eine vollkommene Freundschaft nicht ausreichend,
aber Hector fand, dass sie trotzdem notwendig war. Außerdem schaffte es am Ende
ja doch intensivere Bindungen, wenn man das Vergnügen und die amüsanten Stunden
miteinander teilte, und viele vollkommene Freundschaften haben mit einem
gemeinsamen Hobby begonnen. Dieses Band des Vergnügens war also nicht zu
unterschätzen, selbst wenn es nicht immer hinreichte, um eine Freundschaft zu
definieren.
Andere
Beobachtungen hatten mit der Wertschätzung oder Bewunderung eines Freundes zu
tun. Wenn Hector an Jean-Michel dachte, an Edouard, Jean-Marcel, Valerie,
Leutnant Ardanarinja, Mademoiselle Jung-In Park und sogar an Brice, wie er
früher einmal gewesen war, dann sagte er sich, dass er sie alle schätzte oder
sogar bewunderte - oftmals gerade für die Eigenschaften, mit denen er selbst
weniger reich ausgestattet war - egal, ob es das Mitgefühl war oder der
Geschäftssinn, die Spannkraft oder die Beherrschung eines asiatischen
Kampfsports.
Natürlich
mussten alle diese Gaben für Dinge eingesetzt werden, die er gutheißen konnte.
Aristoteles sprach vom Vergnügen, den Freund tugendhaft handeln zu sehen, und
Hector hoffte, dass seine Freunde auch ein paar Tugenden an ihm fanden.
Eine
dritte Kategorie schließlich hatte mit dem gegenseitigen Wohlwollen unter
Freunden zu tun. Ein Freund ist jemand, auf den du dich verlassen kannst und
der sich auf dich verlassen kann. Vertrauen (von einem Freund oder einer
Freundin hat man nie etwas zu befürchten) und Gegenseitigkeit (man weiß, dass
sich der Freund erkenntlich erweisen wird, wenn man ihm etwas Gutes getan hat)
- das waren wirklich zwei wichtige Zutaten für eine vollkommene Freundschaft.
Eine Freundschaft zu verraten bedeutete oft, die Regeln des Vertrauens oder
der Gegenseitigkeit zu verletzen. Natürlich kam es manchmal auch zu Missverständnissen:
Was der eine als kleines Versäumnis ansah (ein abgesagtes Abendessen beispielsweise),
konnte der andere als große Kränkung auffassen, und dann wurde es so wichtig,
um Verzeihung zu bitten oder verzeihen zu können.
An dieser
Stelle musste Hector wieder an Brice denken, während die Stewardess ihn fragte,
ob er noch ein letztes Glas Wein wolle, und sich die Antwort schon ausmalen
konnte.
Mit Brice
teilte er keine Vergnügungen mehr, und überhaupt war die Wahrscheinlichkeit
gering, dass sie sich noch oft sehen würden. Er hatte ihn für seine Energie
bewundert, für seine witzige Art und seine präzisen Diagnosen, und er erinnerte
sich daran, wie ihm Brice ganz uneigennützig geholfen hatte, Patienten für
seine neu eröffnete Praxis zu finden. Aber wie konnte er heute sein Freund
bleiben? Für einen Mann, der seinen Lebensinhalt darin sah, der König der
Go-go-Bars zu sein, hätte Hector noch eine gewisse Nachsicht aufbringen
können. Aber es war viel schlimmer gekommen: Brice hatte seine Freunde für Geld
verraten - und womöglich auch aus Rachsucht gegenüber Edouard, was vielleicht
noch weniger zu entschuldigen war, es sei denn, man hielt Groll für eine
verzeihlichere Eigenschaft als Käuflichkeit. Warum also sollte man der Freund
eines solchen Menschen bleiben?
Am
Vorabend hatte er Clara eine Mail geschrieben, in der er ihr genau diese Frage
gestellt hatte.
Mein Schatz,
auch das steht bei Aristoteles,
aber er behandelt es in Form von Fragen und gibt keine richtige Antwort darauf.
Immerhin sagt er, es sei normal, dass die Freundschaft vergeht, wenn in puncto
Tugendhaftigkeit der Abstand zwischen den beiden Freunden zu groß wird.
Andererseits
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