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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Marmorpfeiler, entdeckt er endlich das Weihwasserbecken. Er läuft hinüber, tränkt das Bündel in der steinernen Schale und beginnt, sich Genickund Rücken abzuschrubben. Ein paarmal noch taucht er die Jacke ein; schließlich greift er mit beiden Händen ins Wasser, um es sich über den Kopf zu schöpfen. Er zittert vor Kälte, als er in den Beichtstuhl zurückkehrt.
    Nur wenig später wird einer der Patres das Refektorium verlassen, um die Pforten der Kirche zu öffnen. Pater Johannes wird gemessenen Schrittes und prüfenden Blickes das Hauptschiff durchqueren, wie er es jeden Morgen tut, um sicherzugehen, dass alles sauber und in Ordnung ist. Aber an diesem Tag werden keine vergessenen Butterbrotpapiere und Kaugummireste seine Aufmerksamkeit erregen, nein, die rötliche Färbung des Wassers im Weihwasserbecken wird Pater Johannes stutzig machen und ihn gleich darauf in helle Aufregung versetzen.
    «Ein Zeichen des Herrn!», wird er rufen und lobpreisend die Arme ausbreiten, und in Gedanken wird er schon die zuständigen Beamten des Vatikans nach Wien reisen sehen, um das gesegnete Wasser zu inspizieren und zu analysieren. Der Pater wird sich ausmalen, wie Gottes Chemiker – mit Gottes Hilfe – menschliches Blut darin feststellen und wie sie umgehend dem Papst Bericht erstatten würden, und wie schließlich der Papst das Wunder von Sankt Karl Borromäus offiziell anerkennen würde. Die Karlskirche als Pilgerstätte, Wien als Wallfahrtsort, und er selbst, Pater Johannes, als bescheidener Held der Kongregation   …
    Aber am Ende wird es zu nichts von alledem kommen: Statt des Papstes wird der Pater doch die Polizei rufen. Denn er wird nicht nur das Wasser schändlich entweiht finden, er wird auch ein nasses, blutiges Bündel im Beichtstuhl entdecken, kein Grabtuch leider, sondern eine Windjacke mit der profanen Aufschrift
Kanga-Roo-Sportswear
. Ein Kleidungsstück also, das – Pater Johannes wird es zähneknirschend eingestehen müssen – unmöglich dem Heiland gehört haben kann   …

5
    Am Anfang war das Wort, und das Wort hieß:
Ich
.
    Man hat behauptet, ich sei das Kind eines Mannes und einer Frau, die ums Leben kamen, als ich drei Jahre alt war. Aber ich kann mich weder ihres Todes noch ihrer selbst entsinnen. Die Vorstellung, überhaupt jemals Eltern gehabt zu haben, erscheint mir unwirklich, ja geradezu grotesk. Eltern sind etwas Nährendes, Beschützendes, Erziehendes, aber ich bin nie genährt, beschützt, erzogen worden; ich habe mich von Anbeginn meiner Erinnerung selbst genährt, beschützt und erzogen. Der einzige Hinweis darauf, dass meine Entstehung außerhalb meiner selbst erfolgt ist und dass ich in grauer Vorzeit abhängig und fremdbestimmt war, ist mein Nabel. Ich muss wohl mit einem Wirtskörper, einem Nährmenschen verbunden gewesen sein, aber mein Nabel ist die einzige Narbe, die darauf hinweist.
    Am Anfang war
Ich
, das Wort
Ich
, und es entstand von selbst in meinem Kopf, es entstand aus dem Nichts, als ich neun Jahre alt war. Die Zeitrechnung begann, als ich neun war. Davor war nichts.
    Man hat behauptet, ich sei zu Pflegeeltern gekommen, nachdem meine leiblichen Eltern gestorben waren, aber ich vermag mich an keine Pflegeeltern zu erinnern. Man hat behauptet, ich hätte nach zwei weiteren Jahren in jenem Waisenhaus Aufnahme gefunden, dessen Name hier nicht von Bedeutung ist, aber von diesen meinen ersten Jahren im Waisenhaus findet sich nichts in meinem Gedächtnis. Mag schon sein, dass etwas von mir existierte, so etwas wie ein Klumpen Fleisch, ein paar Kilo Kinderkörper. Aber mein Leben begann erst mit neun, als mein Geist erwachte und mein Mund das Wort
Ich
formte.
    Dabei war der Anlass denkbar unbedeutend, wie so oft, wenn Großes aus Kleinem oder eben aus nichts entsteht. Es muss sich wohl in jener Stadt zugetragen haben, deren Name hiernichts zur Sache tut, der einzigen größeren Stadt in der Nähe des Waisenhauses. Auch der Name der Straße ist unwichtig; Namen und Daten waren schon immer belanglos für mich, sie haken die Dinge allzu schnell ab, und sie knebeln das Wesen dieser Dinge. Begriffe sind anders. Begriffe beschreiben die Welt, statt sie nur zu bezeichnen. Als Treibstoff der Gedanken bringen sie den Geist zum Fliegen.
    Wir standen an jener Straße, und wir warteten darauf, dass die Ampel von Rot auf Grün schaltete. Ich sehe die Stelle genau vor mir, ich sehe die zwanzig Kinder, die elternlosen Kinder, von denen ich eines war, ich sehe sie in Zweierreihe an der

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