Lemmings Himmelfahrt
selbst den Lufthauch des Projektils hat der Lemming intensiver wahrgenommen. Gleich darauf hat er hinter sich einen kurzen, schmatzenden Ton vernommen, einen Klang wie aus der Küche, ein Geräusch, das ihn an rohe Hühnerleber oder Fischfilets erinnerte. Etwas ist ihm ins Genick gespritzt, etwas von der Wärme eines Sommerregens. Noch bevor seine Knie weggeknickt sind, ist dem Lemming schon klar gewesen, dass die Kugel ihr Ziel erreicht hat.
Hinter ihm liegt der Hagere auf dem Straßenpflaster. Eines seiner Augen steht offen, das andere ist keines mehr. Stattdessen klafft ein kleiner schwarzer Krater in seinem Gesicht, aus dem unaufhörlich die blutige Lava strömt, um ein paar Meter weiter im Kanal zu versickern. Es heißt oft, dass der Tod dem Menschen ein friedliches Aussehen verleiht, doch diese Leiche macht nicht den Eindruck seliger Entseeltheit. Sie wirkt wie das Aas und der Geier, verloren und hungrig zugleich.
Der Lemming kauert auf dem Boden und betrachtet die gestorbenen Überreste des Feindes. Er ertappt sich dabei, nicht das Maß an Genugtuung zu empfinden, das ihm eigentlich zustünde. Fast hat er ein schlechtes Gewissen für diesen Mangel an Schadenfreude: Hier tritt wieder einmal sein verkümmerter Egoismus zutage, der bisweilen an Selbstaufgabegrenzt. Mit einem resignierten Kopfschütteln wendet er sich von dem Toten ab und dessen Mörder zu.
Der Kleine steht noch immer da und hält den Arm von sich gestreckt. Erschrocken starrt er auf die Pistole in seiner Hand. Sein Mund steht halb offen, aber der Speichel hat zu rinnen aufgehört: Schrot und Schleim scheinen fürs Erste entleert.
«Und jetzt?», fragt der Lemming leise.
Der andere rührt sich nicht. Er kann es offenbar nicht fassen, dass sein Zeigefinger den Lauf den Welt verändert hat. Nur eine winzige Bewegung, ein unmessbar kurzer Moment, in dem der Wille eine Bresche in den moralgepolsterten Panzer der Phantasie schlägt, und schon ist nichts mehr, wie es vorher war. Vorstellung und Wirklichkeit stürzen plötzlich ineinander und vereinen sich zu einem neuen Kosmos, der sich vom alten dadurch unterscheidet, dass man ihn selbst erschaffen hat. Die Macht rauscht einem durch die Ohren, man fühlt sich geborgen, der Schöpfung verbunden – man hat sie ja mitgestaltet, ist endlich selbst zum Schöpfer geworden – und sei es als Zerstörer. Es ist leicht, zu töten. Aber es ist schwierig, ein Mörder zu sein, sobald der Rausch verfliegt und man begreift, dass die Unschuld für immer verloren ist. Die Herrschaft über die Welt ist ein Nebenjob im Vergleich mit der Herrschaft über das eigene Gewissen. Die Uhr lässt sich nicht mehr zurückdrehen, die Seele ist für alle Zeiten defloriert: Das ist es, woran die meisten Verbrecher zerbrechen. Einige wenige aber werden süchtig, erhöhen die Dosis und setzen den nächsten Schuss. Der Kater eines Killers ist ein Karnivore …
Der Lemming weiß, dass sein Leben in diesen Sekunden den seidenen Faden nicht wert ist, an dem es hängt. Er robbt zur Seite, ertastet eine Bretterwand und zieht sich daran hoch. Mit der Vorsicht eines Seiltänzers nähert er sich dem Todesschützen.
«Gib her … ganz ruhig, ich tu dir nichts … Komm schon, gib mir die Waffe …»
In den Ecken und Winkeln der Marktstände werden jetzt Stimmen laut und hallen durch die dämmrigen Zeilen, Stimmen von Händlern und Arbeitern, denen der Knall nicht entgangen ist.
«Ubica! Ubica! Uhapsiti lopova!»
«Bleib da, Fredl! Gib Acht!»
«Atje … Jo! Ndal!»
«So holts doch wer die Polizei!»
Der Kleine legt den Kopf zur Seite und schließt die Augen. Langsam lässt er die Waffe in die Hand des Lemming gleiten.
«Aber ich weiß doch, was ich tu …», flüstert er. «Ich weiß es doch …»
Dann läuft er los.
«Katil! Katil!»
«Mein Gott … schau, da steht er!»
Bevor er sich noch in Bewegung setzen kann, um den Mörder zu verfolgen, treten dem Lemming drei graue Gestalten in den Weg. Schmal, unrasiert, mit verloschenen Zigaretten in den Mundwinkeln.
«Schnell … die Rettung!»
«Verdammt! Revolver!»
So plötzlich, wie sie erschienen sind, verschwinden sie wieder hinter den Buden.
Jetzt ist es am Lemming, die Flucht zu ergreifen. Er hetzt auf die Straße, wirft die Arme hoch, quietschende Bremsen im Ohr, zwei Lichtkegel in den Augen, ein silbriges Glitzern in der Hand, einen Schrei auf den Lippen, erkaltetes, klebriges Hirn im Genick.
Es ist viertel sieben. Die junge Frau am Steuer
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