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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Straße stehen, am Rand der Fahrbahn, und ich sehe die zwei namenlosen Frauen, eine an der Spitze, die andere am Ende jener Zweierreihe. Die Aufgabe der beiden Frauen bestand in der Kontrolle und Führung der Kinder; während die hintere deren Anzahl zu prüfen hatte, entschied die vordere über Tempo und Richtung der Zweierreihe, darüber, ob ein Bus zu besteigen, ein Haus zu betreten, eine Straße zu überqueren war.
    Die Ampel zeigte Rot, und die Kinder warteten. Sie warteten, weil die Frau an der Spitze es so entschieden hatte, und sie ließ die Kinder warten, weil die Ampel Rot zeigte. Ich sehe die Fahrbahn vor mir, breit und grau, eine leere, unbenützte Fahrbahn. Es ist nicht wichtig, warum sie nicht befahren war; es mag an der Uhrzeit gelegen haben oder an einer Umleitung des Verkehrs an anderer Stelle. Ich konnte den Lärm von Motoren hören, aber ich sah keine Autos.
    Ich sehe meine Geburt, das Erwachen meines Geistes. Ich sehe meinen ersten Gedanken, mein erstes Wort:
Ich
. Es war das erste Mal, dass ich mich selbst sah, dass ich verwundert und aufgeregt mich selbst betrachtete, und ich erinnere mich daran so deutlich, als geschähe es jetzt, in diesem Augenblick. Es war nicht so, dass der Gedanke das Wort hervorbrachte,und es war auch nicht so, dass das Wort den Gedanken hervorbrachte. Sie waren ident: Das Wort war der Gedanke und der Gedanke war das Wort, und gemeinsam brachten sie mich hervor.
    Sie stehen und wollen gehen, aber sie gehen nicht; sie entsagen der Bewegung und wollen sich doch bewegen. Kein Einziger geht, weil die Gruppe nicht geht, und die Gruppe geht nicht, weil einer der Gruppe das Gehen verbietet, weil einer die Macht hat, der Gruppe das Gehen zu verbieten, weil sich die Gruppe der Macht dieses einen unterordnet. Und weiter: Dieser eine, scheinbar Mächtige, diese namenlose Frau an der Spitze der Zweierreihe, will selbst gehen, aber sie geht nicht. Diese eine, scheinbar mächtige Frau ordnet sich selbst einer weiteren Macht unter, einem zufällig erscheinenden Polizisten etwa, der sie bestrafen, oder ihrer intriganten Kollegin am Ende der Zweierreihe, die sie bei weiteren, noch höheren Mächten anschwärzen würde, oder ihrer eigenen Vorstellung, ihrem abstrakten Selbstverständnis als verantwortliche Erziehungsperson, das schweren Schaden erlitte, würde sie mit einer Gruppe ihr anvertrauter Waisenkinder bei Rot die Straße überqueren. Sie alle wollen gehen und gehen dennoch nicht, zwischen ihnen und der anderen Straßenseite liegt die Fahrbahn breit und leer und unbefahren, aber alle stehen sie und warten.
    Ich sah mich umringt von Engerlingen, wie ich wohl selbst bis zu diesem Moment einer gewesen war, umringt von angstbleichen Fleischklumpen, in denen die Ohnmacht, die Fremdmacht regierte. Und indem ich sie erkannte, erkannte ich mich selbst.
    Ich ging los.
    Ich ging los und dachte, ich ging denkend;
Ich
sagen, losgehen und denken waren eins.
    Es waren keine geordneten Überlegungen, die meinen Kopfdurchfluteten; keiner meiner Gedanken bildete eine logische Ableitung des vorausgegangenen, und keinen meiner Gedanken goss ich in jene verfeinerte Form, die sich Sprache nennt, indem ich den Versuch unternahm, ihn in Worte zu fassen. Aber ich habe im Laufe der Jahre all diese wirr durcheinander und nebeneinander gedachten Gedanken auf anderen Wegen wiedergefunden, und jeder einzelne erwies sich als fundierte und unwiderlegbare Deduktion des Unumstößlichen:
    Wahrer Wille schuldet keine Rechenschaft.
    Das Wesen der Allmacht ist ein zügelloser Geist.
    Gott ist frei von Gottesfurcht.
    Moral ist eine rote Ampel.
    Dann stand ich auf der anderen Straßenseite und drehte mich um, und ich blickte zurück auf die Gruppe und auf die zwei Frauen an deren Spitze und Ende. Ich sehe ihre Gesichter vor mir, den Ausdruck auf ihren Gesichtern, diesen Ausdruck von Wut und Hilflosigkeit; Wut, weil ich das Gesetz gebrochen hatte, dessen Hohepriesterinnen sie waren, Hilflosigkeit, weil sie es nicht wagten, mir nachzueilen, um meinen Frevel zu bestrafen: Den Regeln, die sie vertraten, hatten sie selbst zu dienen; der Quell ihrer Macht beraubte sie der Macht. Die rote Ampel stand zwischen ihnen und mir; das Gesetz schützte mich, der es missachtet hatte, vor ihnen, die ihm verfallen waren.
    Ich muss nicht betonen, dass ich später, als die Ampel grün geworden war, meine Strafe erhielt, aber es waren bedeutungslose Schläge und fernes Gezeter, es war eine Strafe, der ich nicht mehr als distanziertes

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