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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Interesse zollte. Ich habe mich, nebenbei, auch nie dafür gerächt. Rache ist ein denkbar niedriges Motiv, und der Begriff Rachegott ist demzufolge ein Paradoxon.
    Ich bin kein Gott der Rache.
    Mit neun Jahren erblickte ich also das Licht der Welt, indemich ihren Schatten sah, und ich sah den Schatten der Welt, weil ich in ihr Licht getreten war. Die Welt war mein Geist, und das Licht darin wurde mir erst durch den Schatten bewusst – durch den Schatten, in dem all die anderen standen und in den ich, einmal aus ihm herausgetreten, nie wieder zurückkehren würde.
    Wie es zu diesem Vorgang kam, weiß ich nicht. Man mag es als verirrte elektrische Entladung in meinem Gehirn bezeichnen, als winzige Anomalie in meinem biologischen Betriebssystem. Aber so unsichtbar und unhörbar jener Vorgang für die Außenwelt auch gewesen sein mag, für mich war es der Urknall meiner Existenz, vergleichbar mit jenem Blitzschlag, der vor Jahrmilliarden das erste organische Molekül in der irdischen Ursuppe entstehen ließ.

6
    «In den frühen Morgenstunden hat sich heute im sechsten Wiener Gemeindebezirk ein Mord ereignet. Das Opfer, der vierunddreißigjährige Ferdinand B., wurde kurz nach sechs Uhr auf dem Naschmarkt erschossen. Zeugen berichten, dass der Tat ein heftiger Streit des Krankenpflegers mit einem Unbekannten vorausgegangen war. Der verdächtige Mann ist flüchtig.»
    Endlich Kaffee.
    «Sodala, der Herr!» Die ältliche Frau stellt das Tablett ab und schiebt es dem Lemming hin. Kaffee, endlich Kaffee, ein Glas Wasser, ein Teller, darauf eine frische, knusprige Buttersemmel.
    «A Sauwetter, was?» Die Wirtin mustert ihren klatschnassen Gast und zieht besorgt die Brauen hoch. «Sie werdn Ihnen noch an Schnupfen holen, nur mit den aufg’weichten Hemmat   … Haben S’ kan Regenschirm?» Ohne eine Antwortabzuwarten, fährt sie fort: «Des Wetter is a nimmer, was’s einmal war   … Ozonlöcher und Treibhaussachen, wo man nur hinschaut. Überhaupt die Zeiten, heutzutag   … Haben S’ grad ghört, in Radio? Scho wieder a Mord! Nix wie Räuber und Banditen rundherum, und des nennen s’ dann vereintes Europa   … I sag Ihnen, wenn so aner bei mir da einekummt, dann   …»
    Der Lemming nickt zustimmend, räuspert sich und wendet sich schweigend seiner Buttersemmel zu.
    «Ja also   … Dann lassen S’ Ihner’s schmecken   …» Leicht indigniert zieht die Alte ab.
    Endlich Kaffee, heißer, dampfender Kaffee. Der Lemming gähnt und nimmt einen Schluck.
    Ferdinand B. hat er also geheißen, der Typ mit dem Stecktuch. Kein Name, der dem Lemming geläufig ist. Auch fällt ihm kein Krankenpfleger in seiner Bekanntschaft ein – nur ein Tierpfleger   …
    Obwohl sie erst vier Stunden zurückliegt, ist die Szene vor Klara Breitners Haus seinem Gedächtnis schon fast wieder entglitten. Nun kehrt die Erinnerung mit aller Wucht zurück, und sie schmerzt umso mehr, als der Lemming gerade jetzt eine Stütze brauchte, sich gerade jetzt unendlich gerne an Klara anlehnen würde. Stattdessen sitzt er hier, in einem jener namenlosen, billigen Espressos, die nach ranzigem Öl und Raumspray stinken, sitzt alleine hier, betrogen und verstoßen, obdachlos und von der Polizei gejagt   … Die Wut wallt in ihm hoch, die Wut auf Klara, das treulose Drecksweib, und die Wut auf sich selbst, auf sein eigenes Leben, das ihm erscheint wie das Ergebnis einer endlosen Subtraktion. Zieh alles ab vom Dasein eines Durchschnittsmannes, so grübelt er, zieh die Arbeit ab, den Monatslohn, die Wohnung und am Ende die Geliebte, und was bleibt   … bin ich. Ich, der Versager, ich, das wandelnde Nichts   …
    Noch längere Zeit ergeht sich der Lemming in solchen und ähnlich trüben Betrachtungen, stellt Gleichungen auf, kalkuliert und kürzt, verstrickt seinen Geist in masochistischen Nullsummenspielen. Eintönig schlägt der Regen ans Fenster, hinter der Theke raschelt die Wirtin mit einer Illustrierten. «I bin so schön, i bin so toll, i bin der Anton aus Tirol   …», stimmt sie fröhlich in den blechernen Klang des Radios ein.
    Irgendwann aber brechen die Gedanken des Lemming aus ihrem fruchtlosen Kreislauf aus und geraten in ein ruhigeres, gedeihlicheres Fahrwasser. Er beginnt, die Möglichkeiten abzuwägen, die ihm bleiben, überlegt, was nun, Schritt für Schritt, zu tun ist. Zunächst braucht er einen Platz, um die Nacht zu verbringen. Seine Freunde lassen sich an einem Finger abzählen; die meisten hat er verloren, als er vor fünfzehn

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