Lemmings Himmelfahrt
des Wagens, ihres Zeichens Verkäuferin in einem kleinen Naturkostladenjenseits der Donau, wird an diesem Mittwoch nicht zur Arbeit erscheinen. Sie wird das Auto wenden, mit zitternden Knien nach Hause fahren, die Tür verriegeln und sich in ihr
Biosonne-
Bambusbett legen. Aber Joghurt und Yoga, Fengshui und Fliederkissen werden sie nicht von dem Albtraum befreien können, der da so jählings an ihrer Kühlerhaube vorbeigehuscht ist. Sie hat Ravana gesehen, den Dämonenfürsten und Todfeind des Vishnu; sie hat an jenem Morgen dem Inbild des Bösen ins Auge geblickt, aus und basta, und kein Therapeut dieser Welt wird je etwas daran ändern können.
4
Langsam und schwerfällig entfaltet sich der Tag. Die feuchte, drückende Luft, die gleichförmig düsteren Wolken lassen nicht daran zweifeln, dass ein Unwetter naht. Viele der Menschen, die, eben der U-Bahn entstiegen, durch die Passage unter dem Karlsplatz hasten, halten Regenschirme unter die Arme geklemmt, und kaum einer ist darunter, der seinen Schritt vor dem breiten Ausgang zum Resselpark nicht verlangsamt, um prüfend den Blick nach oben, zum Himmel zu richten, ehe er ins Freie tritt.
«Hast a paar Schilling zum Telefonieren?»
Der Lemming zuckt zur Seite, als habe ihm jemand einen Schlag versetzt. Er starrt in die großen Augen einer jungen Frau, die ihm in demutsvoll gebeugter Haltung ihre Hand entgegenstreckt. Schön, fährt es ihm durch den Kopf, ja, schön, diese Augen, wenn nur das Gesicht rundum nicht wäre, dieses ausgezehrte, knochige Gesicht mit dem schiefen Mund, beinahe zahnlos, aus dem die noch schiefere Wahrheit, die offensichtliche Lüge strömt. Ein paar Schillinge also. Zum Telefonieren …
«He du, was is jetzt? Soll i dir einen blasen, drüben am Häusl?»
Schon fühlt sich der Lemming von den Blicken der Passanten gestreift. Fühlt sich gemustert, beobachtet, verfolgt. Man bleibt nicht einfach stehen, nicht in dieser Unterführung, sofern man nicht selbst zu den Sandlern und Junkies gehört, die hier ihr tägliches Gift und etwas Wärme suchen. Wer hier stehen bleibt, wenn er angebettelt wird, der schlägt sich auf die Seite der Ausgestoßenen, der entpuppt sich als Dissident, als Verräter an der Gesellschaft, und sei es auch nur, weil ihn sein gutes, anarchisches Herz dazu zwingt. Er zieht die Brieftasche aus der Hose, bekommt einen Schein zu fassen, egal, jetzt nur keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, gerade hier sind Polizeistreifen an der Tagesordnung …
«He, super, du, dank dir.»
Sie schickt sich an, davonzuschlurfen, als ihr Blick auf den Rücken des Lemming fällt.
«Du, Alter, du hast da was, da hinten … Hat dir wer ins G’nack g’spieben?»
Der Lemming läuft los. Er achtet nicht auf den Himmel, an dem die ersten Blitze zucken. Er eilt quer durch den Resselpark, an Bäumen und Büschen vorbei, bis er sich vor der Karlskirche wiederfindet, deren mächtige Kuppel über ihm aufragt wie eine Doppelliterflasche Grünen Veltliners. Es ist aber weder die Form der Kuppel noch seine Frömmigkeit, was ihn die Stufen hinauf zum Haupteingang treibt, es ist vielmehr ein schlichter, naiver Gedanke: Kirche bedeutet Stille und Abgeschiedenheit. Kirche bedeutet Schutz …
Einem Schutzpatron ist sie auch gewidmet, die Karlskirche, dem Mailänder Erzbischof und späteren Pestheiligen Karl Borromäus nämlich, der im sechzehnten Jahrhundert zahlreiche Menschen vor dem schwarzen Tod gerettet haben soll. Nach der Wiener Pestepidemie im Jahr 1713 ließ KaiserKarl VI. das Monument zu Ehren seines heiligen Namensvetters errichten – und als Symbol für den imperialen Machtanspruch der Habsburger: Nicht nur Elemente der griechischen Antike und der italienischen Renaissance zieren das Bauwerk; sein Architekt, Johann Bernhard Fischer von Erlach, schreckte selbst davor nicht zurück, den barocken Tempel mit chinesischen Pagodendächern und islamischen Minaretten zu versehen.
Der Lemming hat kein Auge für derlei architektonische Feinheiten. Er eilt die Freitreppe hinauf, um die Pforte zwischen den beiden gewaltigen römisch-muslimischen Siegessäulen fest versperrt zu finden. Er läuft weiter, umkreist suchend die Kirche und stößt endlich auf eine unverriegelte Seitentür, durch die er ins Innere schlüpft. Während draußen die ersten Tropfen fallen, schlägt ihm hier die klassische Atmosphäre katholischer Gotteshäuser entgegen, jenes düstere, beklemmend klamme Klima, das all die Schrecken, all die Angst und all das
Weitere Kostenlose Bücher