Lemmings Himmelfahrt
Hietzing auf eine ehrwürdige Tradition als
Sommerfrische
der Hocharistokratie verweisen kann, begründet von Kaiserin Maria Theresia, als sie zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts das Hietzinger Schloss Schönbrunn zum Prachtpalast ausbauen ließ, hat Döbling dergleichen nicht aufzubieten. Mögen auch beide Bezirke als
nobel
gelten, so ist Hietzings Noblesse eine vornehme, jene Döblings allenfalls eine luxuriöse. Es sind keine Bankiers, die hier leben, sondern
Banker
, keine Generaldirektoren, sondern
Topmanager
, und der österreichische Bundespräsident, der hier ebenfalls seinen Wohnsitz hat, bleibt einer der wenigen Präsidenten unter Myriaden von
Chief Consultants
.
Der neunzehnte Bezirk ist aber nicht nur die Heimat der fröhlichen Neureichen. An seiner den Gestaden des Donaukanals zugewandten Seite erstreckt sich ein kilometerlanger Wohnblock, der als Hochburg des Wiener Arbeitertums in die Geschichte einging: der legendäre Karl-Marx-Hof. Hinten in Nussdorf wieder und drüben in Neustift, oben in Sievering und vor allem in Grinzing lässt sich allabendlich die Reblaus besingen. Dort sitzt man inmitten der Winzergärten, sitzt, von grünen Reben umrankt, beim Heurigen und trinkt den guten Wein, der auch dann noch sein wird, wenn man selbst nicht mehr sein wird.
Auch nach dem dritten Viertel ist dem Lemming nicht zum Singen zumute. Er sitzt beim Zawodil, einem Heurigen am Fuß des Schenkenbergs, lässt seinen Blick über die sanften Hänge schweifen und trinkt sich Mut an. Fast zwei Stunden hat er bis hierher gebraucht, hat sich spähend und lauernd dem Stadtrand genähert, auf der Wacht vor jeder Wache, auf der Hut vor jedem Hüter des Gesetzes. Er hat sich’s verdient, beim Zawodil sein Basislager aufzuschlagen, bevor er die Bergetappe in Angriff nimmt. Er hat sich’s mehr als verdient. Der Mensch trinkt schließlich auch, um zu vergessen, und genau das will er ja, der Lemming, alles vergessen, alles, selbst seinen Namen.
«Ein Viertel noch, Fräulein!»
Die Schatten der Bäume werden länger; eine Amsel stimmt ihr Lied an. Nach und nach füllt sich der Garten mit Besuchern, mit dem Klang von Stimmen und Gläsern. Auf den Tischen werden Kerzen entzündet. Sie flackern im lauen Windhauch, den der Berg herab durch die Rebzeilen schickt.
«Gestatten?»
Eine junge Frau steht vor dem Lemming und lächelt ihn fragend an. «Bei Ihnen vielleicht noch ein Platzerl frei?»
Sie trägt eine weiße Bluse, ein textiles Nichts, durch das dieSpitzen ihrer kleinen Apfelbrüste blicken. Der Lemming erwidert den Blick.
«Äh …»
Ein Mann tritt neben sie, legt den Arm um ihre Schulter.
«Dürfen wir?»
Zögernd hebt der Lemming die Hand, lässt sie auf halber Höhe verharren. Legt den Kopf zur Seite. Starrt ins Leere. Fährt sich dann kurz und unvermittelt über Mund und Augen, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen.
«Äh … Ja … Ich weiß nicht … Was möchten Sie?» Er runzelt die Stirn und betrachtet angestrengt seine Fingernägel.
Auf den Mienen des Pärchens zeichnet sich Erstaunen ab, das sich bald in Befremden und endlich in Mitleid verwandelt. Ein paar Sekunden stumme Anteilnahme, gepaart mit dem festen Entschluss, sich von diesem Kretin nicht den Abend verderben zu lassen.
«Schau, Schatzi», bricht die Frau das betretene Schweigen, und sie spricht laut, damit es auch der Lemming hören kann, «schau, da drüben is grad was frei geworden …» Und als sich die beiden abwenden, um in trauter Umarmung dem anderen Ende des Gartens entgegenzustreben, in dem nach wie vor alle Tische besetzt sind, fügt sie ein leise gemurmeltes «Armer Teufel …» hinzu. Der Lemming kann auch das noch vernehmen, zum Glück, denn es erfüllt ihn mit Trost und Hoffnung.
Kaum fünf Minuten sind verstrichen, als wieder jemand an seinen Tisch tritt. Ein Zeitungsverkäufer, der in einer jener übergroßen orange-gelben Plastikjacken steckt, mit denen die
Reine Wahrheit
ihre Kolporteure uniformiert.
«Zeitung morgen bitte!»
«Eine
Reine
», sagt der Lemming.
Noch bevor er die Zeitung in Händen hält, springt ihm bereits die Schlagzeile entgegen:
BLUTTAT IM HERZEN WIENS!
Er rückt die Kerze näher und liest:
Schreckliche Szenen spielten sich am Mittwoch auf dem Wiener Naschmarkt ab. Der arbeitslose Krankenpfleger Ferdinand B. fiel am frühen Morgen einem brutalen Mordanschlag zum Opfer. Laut Augenzeugenberichten hatte der Dreiunddreißigjährige keine Chance, als er mit
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