Lemmings Himmelfahrt
leiser, je nachdem, wohin der Wind sich dreht.
«Der Regen, die Sonne, der Schnee und der Wind, ein jedes der Waldgeister fröhliches Kind; wir tanzen, wir tanzen …»
Der Lemming fröstelt. Er richtet sich langsam auf, und der Schmerz durchzuckt seinen Kopf; es fühlt sich an, als sei sein Schädel mit eisernen Bolzen ans Rückgrat genietet.
«Wir loben und preisen die irdische Pracht …»
Eine seltsame, kindliche Melodie, hervorgebracht von Stimmen, die mädchenhaft und doch zugleich erwachsen klingen, von Stimmen aus einer anderen, einer fernen, einer Märchenwelt. Die steifen Beine des Lemming machen ein paar Schritte, während seine vom Morgenlicht geblendeten Augen nach der Quelle der wunderlichen Klänge Ausschau halten. Zunächst sieht er nur ein verschwommenes Flirren, ein Schimmern von leuchtenden Flecken, die sich vor ihm im Kreis drehen. Er blinzelt angestrengt, und als er sich endlich an die Helligkeit gewöhnt hat, kann er dennoch nicht glauben, was er da sieht.
Kaum dreißig Meter entfernt wogt der Reigen der Nymphen im raschelnden Laub. Sie haben einander die Hände gereicht und tanzen; sie tanzen mit wehenden Kleidchen und blonden, wallenden Schöpfen, um die sich bunte Blumenkränze ranken. Vier Gestalten macht der Lemming aus, vier Frauen mit sonderbar gedrungenen Leibern, deren Bewegungen so fröhlich wie schwerfällig wirken, weiblich und kindlich zugleich, genau wie ihr Gesang.
«Der Wind und die Sonne, der Schnee und der Regen, dem irdischen Leben ein himmlischer Segen, wir tanzen, wir tanzen …»
Im Schutz einer mächtigen Eiche schleicht der Lemming näher. So sehr zieht ihn das Schauspiel der Sirenen in den Bann, dass er weder das Straßenpflaster vor seinen Füßen bemerkt noch das Auto, das den Weg herauffährt. Er tritt hinter dem Baum hervor und auf die Fahrbahn.
Schwarz glänzender Lack. Dann die verzerrte Spiegelung seines eigenen Gesichts in der Windschutzscheibe. Dahinter entsetzte Mienen, die einer Frau und die eines Jungen. Schließlich die Wärme, die unerwartete Wärme auf der Motorhaube. Sie ist das Letzte, was der Lemming mitbekommt.
Der Chiffon bauscht sich wie ein weißer Spinnaker, flattert unentschlossen, fällt dann zurück, als wolle er Atem holen für die nächste Brise. Leise klimpern die Gardinenschnüre. Das zweite Mal an diesem Tag öffnet der Lemming die Augen.
Er liegt in einem hellen Raum, in dem vier Betten stehen – Krankenhausbetten, also jene konstruktivistischen Stahlrohrgefüge, die den doppeldeutigen Galgen bereits eingebaut haben: ein drohend erhobener Zeigefinger, der die Kranken wieder hinaus in die Welt der Gesunden treiben soll. Die beiden gegenüberliegenden Betten sind leer; so viel kann der Lemming erkennen, ohne den Kopf zu heben. Das vierte, das sich links von ihm an der Fensterfront befindet, ist offenbar belegt, denn zwei Stühle stehen daneben, und auf diesen Stühlen sitzen eine Frau und ein Junge.
«Er ist plötzlich aus dem Wald gekommen und auf die Straße gesprungen», sagt die Frau mit gedämpfter Stimme. «Unmöglich, ihn rechtzeitig zu sehen … Dabei sind wir höchstens zwanzig gefahren.»
«Du kannst ja eh nichts dafür», lässt sich jetzt der Junge vernehmen. «Die Mama kann nichts dafür», wiederholt er gleich darauf in Richtung des Krankenbetts. «Wir waren urlangsam. Aber der Irre …»
«Geh, Simon! Vielleicht noch ein bisserl lauter …»
«’tschuldigung …»
«Jedenfalls», fährt die Frau fort, «ist er kein
Ulmen-
Patient … na ja, bis heute. Die haben ihn hier noch nie gesehen. Aber jetzt kümmern sie sich um ihn, hat der Hardy gesagt.» Sie senkt die Stimme ein wenig. «Der Hardy war ganz nervös, von wegen Polizei und Skandal, weil ihm vorgestern einer durchgebrannt ist. Dieser Geiger, der Balint … Und du weißt ja, wie der Hardy ist: Nur keine Wellen schlagen, um den heiligen Ruf der Klinik nicht zu gefährden … Mag ja sein, dass er Recht hat … Er hat gleich gemeint, dass ohnehin nichtviel passiert ist. Der Mann hat keine Brüche, nur ein paar Schrammen und wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Höchstens eine leichte, hat der Hardy gesagt. Ich weiß trotzdem nicht, ob das in Ordnung ist … Man muss doch Anzeige erstatten …»
Sie verfällt in Schweigen, das von niemandem gebrochen wird. Aus dem Bett vor ihr kommt keine Antwort.
Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Lemming reglos dagelegen und gelauscht; jetzt aber gilt es, sich bemerkbar zu machen.
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