Lemmings Himmelfahrt
ihn förmlich denken hören.
«Rat einmal, was der Buchwieser von Beruf war.»
«Krankenpfleger, haben sie im Radio gesagt …»
«Richtig. Draußen in Döbling hat er gearbeitet,
Unter den Ulmen
, um genau zu sein. Schon gehört?»
«Nein.»
«Ein Sanatorium am Stadtrand, oben in Döbling zwischen Bellevue und Pfaffenberg. Entsprechend ruhig, entsprechend grün und mehr als gediegen. Die
Ulmen
sind eine – und jetzt sperr die Ohrwascheln auf – psychiatrische Klinik. Klingelt’s bei dir?»
Es klingelt heftig in den grauen Zellen des Lemming.
«Das heißt, der Winzling könnt einer von den Irren g’wesen sein …»
«
Irre
sagt man net, Wallisch. Das heißt heutzutag
verhaltenskreativ
. Aber egal. Der Buchwieser hat sich jedenfalls vor zwei Wochen ins Privatleben z’rück’zogen. Er hat gekündigt, nach fünf Jahren
Ulmen
.»
«Ja und?»
«Nix und. Mehr hat mir die Leich net erzählt …»
«Wie komm ich dort rein, Professor?»
«Wo rein?»
«In diese … Ulmenklinik
…
»
«Am besten gar net, mein Lieber. Erstens sind die
Ulmen
nur was für sehr bemittelte Minderbemittelte. Mit Krankenschein geht da gar nix. Zweitens bist du, soweit ich’s beurteilen kann, noch net irre genug. Aber lass dich beruhigen, Wallisch, das wird schon, du bist am besten Weg dahin …»
«Schon möglich … Wär ja auch kein Wunder …»
«Schau, Bub … Ich tät dir ja raten, dich zu stellen. So gut kannst die Spuren gar net verwischt haben, dass sich net irgendwas zu deiner Entlastung find’t. Und dann, mit einem g’schickten Anwalt … Das Problem is nur, dass da noch ein Problem is …»
Bernatzky zögert, ehe er weiterspricht. Dieses Innehalten, dieses Luftholen, um den richtigen Tonfall zu finden, kennt der Lemming nur allzu gut. Es ist das verlegene Zaudern, das ihn selbst immer dann befallen hat, wenn er der Familie eines Mordopfers die Schreckensbotschaft überbringen musste.
«Du hast doch die Nachrichten g’hört. Was glaubst du, Wallisch, warum die Herren Redakteure deinen Namen unterschlagen haben?»
«Keine Ahnung …»
Bernatzky seufzt.
«Weil s’ ihn gar net kennen. Und warum kennen s’ ihn net? Weil’s einem gewissen Herrn ein großes Anliegen is, dich eigenhändig zu erwischen … Kannst dir schon denken, wem.Ihr habts dem Herrn zwar die Nasen brochen und die Zähndt ausg’schlagen, der Huber und du, und degradiert is er auch noch worden, der Herr, alles zu Recht, alles hochkorrekt. Aber das, mein Lieber, sind die Heldensagen der Vergangenheit. Seit ein paar Wochen is er nämlich wieder da, der Krotznig, voll da. Die Zähne und die Weste weißer denn je. Der alte, neue Herr Major kümmert sich höchstpersönlich um die Naschmarktg’schicht, er hat sich quasi selber auf den Fall ang’setzt, und er wär, glaub ich, net sehr erfreut, wenn ihm irgendwer seinen alten Spezi Wallisch vor der Nasen wegschnappen tät …»
«Der Krotznig also …»
«Beileid, Wallisch.»
«Ich muss in diese Klinik, Professor. Das ist meine einzige Chance, die einzige Spur zum Mörder …»
«Vielleicht hast ja Recht … Wart ein Momenterl …»
Bernatzky legt den Hörer hin. Kurz darauf vernimmt der Lemming das Knarren von Schritten auf altem Parkett, entferntes Gemurmel und schließlich, nun wieder lauter, das Rascheln von Papier.
«Sodala, da haben wir’s. Pass auf … Hast schon einmal von
retrograder Amnesie
g’hört? Nenn’s meinetwegen Gedächtnisverlust … Klingt aber net so schön. Wichtig ist dabei das Worterl
retrograd
: Stell dir vor, du hast einen Unfall. Zum Beispiel … Ein Blitz trifft dich, wie du grad frisch g’waschen aus der Karlskirchen kommst. Dann kannst dich bei der
Retrograden
an nix mehr erinnern, was vor dem Blitz war. Die
Anterograde
is gewissermaßen das Gegenteil, die könn’ma net brauchen, die interessiert uns net. Aber wennst Lust hast, kannst dir noch zusätzlich eine
dissoziative Fugue
zulegen. Dann kannst dich an den Blitz selber auch nimmer erinnern. Dann war der Schock so groß, dass du völlig aus der Haut fahrst. Du nimmst eine neue Identität an, gehst auf Reisen,irgendwohin, und benimmst dich gleichzeitig, wie wenn nix g’schehen wär. Wohlgemerkt: Das hat keine organischen Ursachen und is medizinisch trotzdem verbürgt. Das könnt funktionieren, Wallisch. Da steht’s:
Größte differenzialdiagnostische Schwierigkeit ist das Ausschließen einer bewussten Simulation von Konversionsstörungen infolge
Weitere Kostenlose Bücher