Lemmings Himmelfahrt
einem gezielten Schuss in den Kopf hingerichtet wurde. Aufgrund der Kaltblütigkeit, mit der die Tat begangen wurde, schließen die ermittelnden Beamten (Gruppe Krotznig) einen Auftragsmord nicht aus. Das Tatmotiv dürfte nach bislang unbestätigten Berichten im Rotlichtmilieu zu finden sein: Die Zahl der auf heimischem Boden verübten Gewalttaten zwischen serbischen und russischen Mädchenhändlerringen soll sich in den letzten Jahren nahezu verdreifacht haben. Die Spuren der östlichen Profikiller enden meist an der österreichischen Grenze, über die sie bei Nacht und Nebel zurück in ihre Heimat flüchten, nachdem sie bei uns ihr hinterhältiges Werk …
Der Lemming blättert weiter. Kein Foto, kein Name, kein Wort über Leopold Wallisch. Bernatzky hat also Recht gehabt. Krotznig will die Sache alleine erledigen. Auf seine Weise. Und das bedeutet: Krotznig wird alles versuchen, um den Lemming
nicht
hinter Gitter zu bringen …
«Ein Viertel noch, Fräulein, und dann zahlen!»
Halb zehn ist es, als der Lemming die Talstation verlässt. Er geht an der Kaasgrabenkirche vorbei, nimmt einen schmalen Steig nach Norden und biegt in die Himmelstraße, die vom Grinzinger Friedhof direkt zum Himmel führt. Allerdings liegt jene Stelle, die von den Wienern
Am Himmel
genanntwird, nur knapp vierhundert Meter über dem Meeresspiegel. Unmittelbar dahinter erhebt sich der Pfaffenberg, dessen Gipfel um fast dreißig Meter höher ist – so wacht auch hier der Klerus über den Himmel auf Erden.
Schnaufend stapft der Lemming die Straße hinauf, die sich, zunächst noch von spärlich beleuchteten Herrschaftshäusern gesäumt, bald schon im nächtlichen Dunkel der Wiesen und Wälder verliert. Er geht langsam, setzt hastlos Schritt vor Schritt und versucht, sich einen Plan zurechtzulegen.
Du brauchst einen Unfall,
hat Bernatzky gesagt,
ein Malheur, das die in der Klinik auch mitkriegen …
Aber sosehr sich der Lemming auch bemüht: Der Wein hat ihn schläfrig gemacht, und die zündende Idee bleibt aus. Macht nichts, denkt er schließlich, macht nichts, Lemming. Dein größtes Malheur soll sein, dass du einmal keinen Unfall hast …
Nach einer Stunde flacht die Straße etwas ab, und er sieht einen Lichtschein durch die Baumkronen funkeln. Es ist eine Raststätte, das
Häuserl am Himmel
nämlich, das beinahe das Ziel seiner nächtlichen Bergtour markiert. Ein paar Meter weiter taucht am Straßenrand ein heller Fleck aus der Dunkelheit auf. Der Lemming tritt näher, erkennt eine Kreuzung, einen Baum, auf dem in Augenhöhe ein kleiner, weißer Pfeil befestigt ist. Im fahlen Mondschein entziffert er das Wort, das darauf geschrieben steht:
Sanatorium
. Nichts weiter, nur:
Sanatorium
. Er folgt dem Hinweisschild, verlässt die Himmelstraße und wendet sich nach links. Der schmale, gepflasterte Weg führt direkt in den Wald, sodass den Lemming bald völlige Finsternis umfängt. Er kommt nur noch stolpernd und strauchelnd voran, und nach zwei ungewollten Abstechern ins dornenreiche Unterholz beschließt er, den Nachtmarsch abzubrechen. Nachdem seine Hände eine ebene, weiche Stelle zwischen den Büschen ertastet haben, lässt er sich nieder und breitet die Zeitung auf den Boden, um dann seine Uhr,sein Portemonnaie und die Pistole hineinzuwickeln. Die
Reine Wahrheit
ist eben doch ein Revolverblatt, denkt er, als er das Päckchen neben sich ins Dickicht schiebt.
Unendlich erschöpft lässt er den Kopf auf die kühle Erde sinken, und schon senken sich auch die Träume herab und zaubern ein leises Lächeln auf seinen Mund. Gleichmäßig rauschen die schwarzen Wipfel. Ein Käuzchen schreit. Der Lemming aber liegt da wie das Fleisch gewordene Wort Immanuel Kants:
Der Himmel hat den Menschen als Gegengewicht zu den vielen Mühseligkeiten des Lebens drei Dinge gegeben: die Hoffnung, den Schlaf und das Lachen.
9
«Die Sonne, der Regen, der Wind und der Schnee, der himmlische Segen von Faun und von Fee; wir tanzen, wir tanzen bei Tag und bei Nacht und loben und preisen die irdische Pracht …»
Er schlägt die verschwollenen Augen auf, um die Stimmen aus seinem Kopf zu vertreiben, doch der Gesang verstummt nicht. Über ihm das sanfte Schwanken der Bäume, deren Blattwerk mit den ersten Sonnenstrahlen spielt, unter ihm der feuchte Boden, der nun gar nicht mehr weich erscheint, sondern kalt und verhärtet wie seine eigenen Glieder, sein ganzer morgenschwerer Leib. Und in seinen Ohren dieses Lied, manchmal lauter, manchmal
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