Lemmings Himmelfahrt
traumatisierender Ereignisse
… Was du also brauchst, is ein Malheur, und zwar eins, das sie dir im Sanatorium auch abkaufen. Wenn das vor ihrer Tür passiert und die das mitkriegen, müssen s’ dich einfach aufnehmen. Fragt sich nur, für wie lang …»
«Professor … Ich weiß gar nicht, wie ich …»
«Keine Ursache, Wallisch. Ah ja, und fahr dir manchmal mit der Hand übern Mund und die Stirn, wie einer, der sich was wegwischen möcht; das macht sich gut bei Gedächtnisverlust …»
«Danke …»
«Gib Acht auf dich … So schön bist auch wieder net, dass ich dich als Patienten haben möcht. So, jetzt muss ich mich aber um den Buchwieser kümmern, der wird mir sonst ungeduldig …»
Als der Lemming aus der Telefonzelle tritt und seine Schritte den Gürtel entlang in Richtung Döbling lenkt, trägt er das erste Lächeln seit Tagen auf dem Mund. Er konzentriert sich, hebt die Hand und wischt es fort.
8
An der Donau zwischen Alpen und Karpaten hängt wie ein Spinnennetz die Wienerstadt. Sie ist ein Netz mit dreiundzwanzig Zonen, deren erste das Zentrum bildet, um das sich schicht- und kreisförmig die anderen Bezirke auffächern. Gegen die Mitte dicht aneinander gedrängt, nach außen sich zusehends weitend, unterliegen sie einer ungeschriebenenhierarchischen Ordnung, die nur bedingt aus ihrer Lage oder numerischen Reihung abzulesen ist.
Je näher zum schüsselförmigen Nabel Wiens, zu diesem an Ämtern und Ministerien reichen Fressnapf, in dem die unersättliche, alles regierende Bundestarantel hockt, desto höher scheint das Ansehen des Viertels zu sein. Die an den Stadtkern grenzenden Bezirke zwei bis neun, die im Zuge der ersten Wiener Stadterweiterung im Jahr 1850 eingemeindet wurden, bilden die so genannten
bürgerlichen
Bezirke. Trotzdem zahlt das hier ansässige Bürgertum ganz unstandesgemäß fürstliche Mietpreise; vielleicht deshalb, weil es sich dadurch ein bisserl aristokratischer fühlt, vielleicht auch, weil es dem Wörtchen
zentrumsnah
in den einschlägigen Inseraten der Wohnungsmakler nicht widerstehen kann. Man sieht sich eben auch als Bürger gern im Mittelpunkt.
Zwischen den
bürgerlichen
Bezirken und dem Stadtrand liegt die breite Pufferzone der
Arbeiterbezirke
. Als unmittelbare Folge von Industrialisierung und Landflucht schossen sie im Lauf der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aus dem Boden, um der Wiener Gemeinde im Jahr 1890 ebenfalls einverleibt zu werden. Kaiser Franz Joseph lobte damals das «Blühen und Gedeihen dieses jungen Gartens» und den «erfreulichen Aufschwung der Vororte, welche auch keine physische Grenze von der alten Mutterstadt scheiden soll», womit er der traditionell tief verwurzelten Zuneigung des Adels zum Proletariat ein sprachliches Denkmal setzte.
Es gibt also
bürgerliche
Bezirke und
Arbeiterbezirke
in Wien, gute und nicht so gute Adressen, die besseren innen, die schlechteren außen. Das klingt zwar einfach, ist aber dafür auch eine äußerst ungenaue, die wahren Verhältnisse simplifizierende und verzerrende Orientierungshilfe. Denn die Sehnsucht der Städter gilt nicht nur dem imaginären absoluten Mittelpunkt, der – geographisch und ideologisch – mitdem Hauptaltar des Stephansdoms zusammenfällt. Noch begieriger streben sie dem Limes zu, an dem die Stadt aufhört, Stadt zu sein. Der unwiderlegbare Verdacht drängt sich auf, dass Wien den Wienern eine Hölle ist, in der sie zwar gefangen sind, der sie aber stets – nach innen oder nach außen – zu entfliehen trachten. Und so ersetzen Immobilienmakler den Begriff
zentrumsnah
nur allzu gerne durch einen anderen, noch weitaus lukrativeren, und der heißt:
Grünruhelage
.
Die meistbegehrten und teuersten Wohnadressen finden sich an der Peripherie im Norden und Westen der Stadt. Hier, am Rande des Wienerwalds, der sich vom äußersten Alpenzipfel hinunter ins Wiener Becken ergießt, liegen die Villenviertel, weitläufige, dünn bebaute Gebiete mit duftenden Gärten, hohen Hecken und tiefen Swimmingpools. Auf zwei Bezirke Wiens hat der Ruf seiner Villenviertel nachhaltig abgefärbt, auf den dreizehnten und auf den neunzehnten, Hietzing und Döbling, die deshalb auch als
Nobelbezirke
gelten. Aber so wie alle anderen Stadtteile eine Vielzahl verschiedener Charakterzüge aufweisen, die weit über die grobe Gliederung in
bürgerliche
und
Arbeiterbezirke
hinausgehen, lassen sich auch zwischen Hietzing und Döbling fundamentale Unterschiede feststellen. Während
Weitere Kostenlose Bücher