Lemmings Himmelfahrt
Moment der Erschöpfung seinen Wunsch aussprach, wurde mir klar, dass die Zeit des Abschieds gekommen war.
Diese Streitereien
, hatte er müde vor sich hingemurmelt,
wenn diese ewigen Streitereien nur ein für alle Mal ein Ende hätten
…
Man sollte vorsichtig mit seinen Wünschen sein.
Ich war nun siebzehn und für meinen ersten Mord bereit.
16
Sie schlägt lasziv die Beine übereinander, während sie an ihrer Zigarette zieht. Ein Stückchen Asche fällt auf ihren abgetragenen Morgenmantel; sie schnippt es mit dem Finger auf den Boden. Nichts an ihr, das nicht zerschlissen wäre: die strähnigen Haare, die brüchigen Nägel, der schäbige Fauteuil, auf dem sie sitzt. Sogar ihr Lächeln wirkt fadenscheinig, und es entblößt einen weiteren Mangel: Einer ihrer Schneidezähne fehlt.
«Magst eine?», fragt sie und nestelt eine Schachtel
Flirt
aus ihrer Manteltasche. Aber der Lemming winkt ab. «Fünf Jahre rauchfrei», meint er und fügt ein bedauerndes «Irgendwie leider …» hinzu.
Der Lemming findet das Rauchen nämlich noch immer schön. Auch wenn er sich der Unhaltbarkeit seines Vorurteils bewusst ist, erscheint ihm die Spezies der Raucher weniger verbissen, weniger rigide, irgendwie gelassener und humorvoller. Raucher nehmen, und das entspricht ohne Zweifel den Tatsachen, das Leben weniger ernst, indem sie den Tod mit Verachtung strafen. Abgesehen davon ist der feine blaue Dunst aber auch Teil einer schwindenden Kultur, einer Kultur der Kontemplation nämlich und des gedanklichen Innehaltens. Nicht umsonst zieht er die Grenze zwischen Kaffeehaus und
Starbucks
, zwischen Wirtshaus und
McDonald’s
. Rauchen ist eine Tradition, wie der Lemming findet, Nichtrauchen nur eine Mode …
Die Frau lehnt sich zurück, wobei ihr Morgenrock bedenklichauseinander klafft, und inhaliert genüsslich, trinkt gleichsam von dem Rauch, der – scheinbar ganz entgegen den Gesetzen der Schwerkraft – nach oben steigt, um in wundersam verflochtenen Kringeln und Kräuseln durch die goldenen Sonnenstrahlen zu tanzen …
Der Lemming hat dann doch nicht mehr geschlafen. Er hat seine Kleider gesucht, um sich für die kommende Mission zu rüsten. Ein Hauch von Seriosität, so hat er gedacht, kann nicht schaden, wenn man jemanden zum Reden bringen will. Aber der Wandschrank neben dem Eingang zum Bad hat ihn leider nur angegähnt, hat ihm gelangweilt seine leeren Fächer präsentiert. Kein Hemd, keine Hose, nichts, womit er seinen Status hätte heben, seinen Patientenlook hätte kaschieren können. Also ist er wieder in den Schlafrock und in die Pantoffeln geschlüpft, wohl oder übel, und ist in der Uniform des Nervenkranken aus dem Siegfried-Pavillon geschlichen.
Er hat den Weg Richtung
Walhall
genommen, ist aber kurz vor der Anhöhe rechts abgebogen und einen engen Pfad entlangmarschiert, der im Halbkreis um den Hügel führte. Auf der anderen, östlichen Seite ist er schließlich auf die Straße gelangt, die sich kurvenreich den Hügel hinauf zum Haupthaus schlängelte. Der Lemming ist bergab gegangen, hat sich dem hohen, schmiedeeisernen Tor der Klinik genähert, neben dem sich ein kleines Gebäude an die alles umgebende Mauer schmiegte: das Pförtnerhaus, also die Grenzstation zwischen Wahnsinn und Normalität.
Auf den ersten Blick hat es ja recht idyllisch gewirkt: ein adrettes, kaisergelb gestrichenes Knusperhäuschen mit freundlich geöffneten, marineblauen Fensterläden. Aber schon auf den zweiten sind dem Lemming Zeichen der Verwahrlosung ins Aug gestochen: die ungeputzten Scheiben zum Beispiel oder die zahllosen Spinnweben unter der Regenrinne. Das Messingschildan der Eingangstür hatte sich aus der Verankerung gelöst; senkrecht baumelte es an seiner letzten Schraube, und man musste den Kopf zur Seite neigen, um die Aufschrift zu entziffern.
Bauer
, hat der Lemming gelesen, und darüber, etwas kleiner:
Franz und Lisa
.
Seine Lage ist nicht wirklich aussichtsreich gewesen. Angetan mit Bademantel und Pantoffeln an fremde Türen zu klopfen, um heikle Fragen zu stellen, zeugt nicht eben von Vertrauenswürdigkeit; schon gar nicht, wenn man sich in einer Irrenanstalt befindet. Das A und O jedes Verhörs ist ein souveränes Auftreten des Ermittlers; kaum etwas anderes entscheidet über die Brisanz oder Süffisanz der Antworten, die er erhält. Aber die Souveränität hat sich der Lemming abschminken können; er musste auf etwas anderes bauen, auf Mitleid zum Beispiel oder auf Wut …
Also hat er sich
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