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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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wieder andere wollten nur ein braves, aber aufgewecktes Kind ihr Eigen nennen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, trugen sie alle ein Wunschbild mit sich, wenn sie bei uns aus ihren Autos stiegen: Es war immer ihr eigenes, bis zur Unkenntlichkeit geschöntes Spiegelbild. Unfruchtbar, wie sie waren, wollten sie doch einen Klon ihrer selbst mit nach Hause nehmen, ein Klischee allerdings, das von ihren genetischen Fehlern bereinigt war. Erst nachdem ich das erkannt hatte, begann mein Marktwert zu steigen. Ich begann die Impotenten nachzuahmen, wenn ihre Kindereinkaufstour sie zu uns führte. Ich schmückte mich mit Schleifchen und Geschenkpapier, nicht anders als die anderen Waisen auch. Aber im Gegensatz zu ihnen stimmte ich die Verpackung auf unsere wechselnden Kunden ab. Gleich einem Chamäleon lernte ich es, nach Bedarf meine Farbe zu ändern.
    Das Paar, das sich am Ende für mich entschied, glich im Großen und Ganzen den anderen Paaren, die sich bei uns einen kleinen Hausgenossen suchten. Durchaus vermögend, halbwegs gebildet, mehr oder weniger freundlich. Und das heißt: er mehr und sie weniger. Der Mann war Apotheker von Beruf. Er besaß einen kleinen Laden in der Stadt, den er gemeinsam mit einem jungen Angestellten führte; so verdiente er genügend Geld, um neben der Wohnung im Zentrum auch noch ein Häuschen am Land erhalten zu können. Am Land und über dem Wasser, genauer gesagt, denn es handelte sich um einen hölzernen Pfahlbau, der, kaum eine Stunde von der Stadt entfernt, am Ufer eines weithin ausgedehntenSteppensees stand. Die ruhige und offene Landschaft der pannonischen Tiefebene schien sich auch im Wesen des Apothekers widerzuspiegeln: Er war einer jener sanften Menschen, die irgendwann das Wort
Geduld
zum obersten Prinzip erhoben haben und die diesem Grundsatz – gemäß der ihm innewohnenden Logik – ein Leben lang die Treue halten. Was auch immer geschehen mochte: Der Apotheker ließ sich nicht aus der Ruhe bringen; ich habe ihn niemals unbeherrscht oder gar jähzornig erlebt. Wenn auch manchmal eine tiefe Traurigkeit in seinen Augen lag, so schien es doch meist eine Trauer aus Mitleid und nicht aus persönlichem Schmerz zu sein: Sie wischte den milden Zug um seine Lippen nie vollkommen fort. Er war ein gütiger Mensch, der Apotheker, und er brauchte viel, sehr viel Geduld, um gütig zu bleiben.
    Im Gegensatz zu ihm hatte seine Frau nämlich ein anderes Wort auf ihre Fahne geschrieben, ein Wort, das ihrer Fahne sozusagen erst Gestalt verlieh, und dieses Wort hieß
Likör
. Die Frau des Apothekers soff wie ein Kamel nach wochenlangem Wüstenritt, nur dass sich ihre Höcker nicht entsprechend füllten. Schlaff und verrunzelt hingen sie an ihr herab, sichtbar gewordene Wurmfortsätze ihrer defätistischen Persönlichkeit, und boten ihr so einen weiteren Vorwand, um noch mehr Schnaps in sich hineinzuschütten. Sie hatte eine schwere Kindheit gehabt, wie sie immer wieder unter Tränen zu betonen pflegte, eine Kindheit, aus der sie das Recht abzuleiten schien, ihre infantile Selbstbezogenheit bis ins Greisenalter beizubehalten, ja mehr noch: Sie forderte für ihre Launen und Allüren ungeteilte
Liebe
ein. So bot sie das Bild einer kleinen, trotzigen Göre mit Hängebrüsten, einer zurückgebliebenen Heulsuse, die es für selbstverständlich hielt, dass ihr Mann den Job erledigte, an dem ihre Eltern gescheitert waren. Der Apotheker tat sein Bestes. Mit messianischerErgebenheit trug er sie auf Händen, sie, sein Schicksal, sein Kreuz. Es war ein Unternehmen ohne Aussicht auf Erfolg: Jedes beruhigende Wort steigerte ihre Hysterie, jedes Kompliment wurde mit bissigerAbwehr quittiert, jedes Treuegelöbnis mit haltlosen Vorwürfen. Die Frau des Apothekers glich einem alternden Jäger, der schon lange nicht mehr jagt, einem blinden Trapper, der durch düstere, tief verschneite Wälder irrt, panisch vor Angst, sein kümmerliches Bündel verrotteter Felle könnte ihm abhanden kommen.
    Die Eifersucht ist ein wunderliches Elend. Das war wohl die wichtigste Lehre, die mir damals zuteil wurde. Aber ich gewann noch eine weitere Einsicht: Alkohol ist ein geistiger Jungbrunnen; er konserviert nicht nur das Fleisch, sondern auch die kindische Dummheit und die Ohnmacht der Menschen.
    Nach kaum einer Woche in meinem neuen Heim erkannte ich den eigentlichen Grund für meine Adoption. Meine Anschaffung sollte vor allem dazu dienen, die Frau des Apothekers zu unterhalten, zu umsorgen und so weit wie möglich von der

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