Lemmings Himmelfahrt
…» Der Lemming seufzt und senkt zerknirscht den Kopf. «Du hast mich erwischt, ein bisserl jedenfalls. Es stimmt schon: Ich tu das nicht für den Ferdl. Ich tu’s für … die Wahrheit …»
Eine Sekunde herrscht Stille: Länger dauert es nicht, bis der letzte Hauch von Farbe aus dem ohnehin schon fahlen Teint der Lisa Bauer gewichen ist. «Fangst du scho wieder an!», zischt sie, weiß vor Wut.
«Aber nein!» Der Lemming ringt die Hände. Deutet dann zur verstaubten Kommode hinüber, auf der ein Stapel Zeitschriften liegt. «Die Wahrheit, die
Reine Wahrheit
! Verstehst?»
Und wieder Schweigen. Aber diesmal ist es kein sprachloserZorn, keine Ruhe vor dem Sturm der Entrüstung. Diesmal ist es die feierliche Stille tief empfundener Ehrfurcht.
«Das … das gibt’s net … Du bist … du bist …», flüstert Lisa Bauer.
«Journalist», sagt der Lemming und bekräftigt seine Lüge mit heftigem Nicken. «Ganz richtig. Reporter …»
«I scheiß mi an …»
«Nicht nötig. Ist ein Job wie jeder andere …»
«Geh hör mir auf … bei der
Reinen
…»
Es ist schon verblüffend, wie leicht sich die Österreicher mit Hilfe der
Reinen Wahrheit
von der reinen Unwahrheit überzeugen lassen. Ein Märchenerzähler am Lagerfeuer eines vorsintflutlichen Pygmäenvolks kann keinen strahlenderen Nimbus besessen haben: Die
Reine
ist die Bibel der kleinen Leute. Schon morgens, wenn sie mit der Straßenbahn zur Arbeit fahren, versinken sie im raschelnden Mantra der druckfrischen Seiten: Es ist ein erhebendes Gemeinschaftserlebnis, eine kollektive Massenhypnose, wenn sie, jeder für sich, aber doch vereint, an den Zitzen dieser ihrer geistigen Nährmutter nuckeln und so die Milch der großen weiten Welt in sich aufsaugen. Man überfliegt die internationalen Schlagzeilen, verweilt ein wenig bei der Chronik, um sich dann im Sportteil zu verbeißen, man blättert noch einmal zurück, entrüstet sich über Schlepperbanden und schwarze Drogendealer, Tierquäler und korrupte Politiker periodisch wechselnder Couleur, liest mit Schaudern von Frauen- und Kinderschändern und wendet sich schließlich der nackten Blondine zu, die gleich neben den Sittendelikten abgebildet ist. Erst danach wird der Lesevorgang beendet, das Blattwerk zusammengefaltet: Die österreichische Meinung für den kommenden Tag und für die nächsten Wahlen ist kalibriert.
Mit einem Mal ist der Lemming also zum Hohepriester des papiernen Nationalheiligtums avanciert. Zumindest in denAugen Lisa Bauers. Sie ist nun bereit, ihr Herz zu öffnen, Zeugnis abzulegen, und ihre Beichte wird, so hofft der Lemming jedenfalls, nichts als die reine Wahrheit sein.
17
«Der Ferdl und i, wir haben uns …. nein. I muss vorher beginnen, ganz am Anfang, dass der Herr Redakteur ka schlechtes Bild von mir bekommt …» Sie gießt sich das Glas voll, schenkt dann auch dem Lemming nach. Schließt kurz die Augen und seufzt, bevor sie weiterspricht. «I muss beim Franz beginnen. I bin vom Land, weißt, von ganz oben, nördliches Weinviertel, du wirst den Ort net kennen, a Kuhdorf in der Nähe von Mistelbach, aber Namen sind eh net so wichtig … Die Auswahl is net groß dort draußen, man nimmt oft, was man kriegt, und wenn einmal einer von auswärts kommt, einer, der kein Dodel is und was gleichschaut, dann is er gleich der Hahn im Korb, dann marschieren s’ auf, die Mauerblümchen und Landpomeranzen aus der ganzen Gegend, dann muss man g’schwind sein, wenn man net überbleiben will. Der Franz is damals von Wien ’kommen, a so genannter Zuag’raster, hat si im Wirtshaus das billigste Zimmer g’nommen – net besser als a Abstellkammerl – und is bei uns ’blieben. Warum, weiß i bis heut net … Er war zwar still, aber net blöd, er war ka Schönheit, aber immerhin: Er war scho in Ordnung, der Franz, und i hab ihn mir g’schnappt damals; der is mir nimmer aus’kommen. Im fünfundneunziger Jahr haben wir g’heirat’ …»
Sie legt eine Pause ein. Nimmt das Päckchen
Flirt
vom Tisch und zündet sich eine Zigarette an.
«Es war gut. Wirklich gut. A Glücksgriff, hab i mir damals ’dacht. Zärtlich war er, der Franz, und treu. Manchmal hab i mir sogar g’wünscht, dass er ein bissel lebhafter is … Im Bettwar er’s eh, Gott sei Dank … Zuchtbulle, sag i nur, wenns d’ verstehst, was i mein. Aber das brauchst net schreiben in der
Reinen
… Geld war zwar keines da: I hab sechs Brüder g’habt, kannst dir
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