Lemmings Himmelfahrt
zunächst auf der hölzernen Gartenbank vor dem Pförtnerhaus niedergelassen, um taktische Überlegungen anzustellen. Sein Blick ist den Hügel hinaufgewandert, wo über den Baumkronen das Dach von
Walhall
in der Sonne schimmerte. Und dann, wie von selbst, ist seine Hand in den Schotter unter seinen Füßen getaucht und hat vier Kiesel aufgelesen: einen weißen, einen schwarzen und zwei graue. Den schwarzen hat der Lemming links von sich auf die Bank gelegt. Das war Ferdinand Buchwieser, emeritierter Pfleger und Mensch. Der weiße Stein ist möglichst weit entfernt auf der rechten Seite der Bank gelandet: Schwester Ines, die Unschuld vom philippinischen Lande. Ihre Abscheu gegen Buchwieser war evident; sie hatte ihm quasi ins Grab hinterhergespuckt. Blieben die zwei grauen Steine, die für das Pförtnerpaar standen. Keine Frage, dass auch sie nicht gerade zu Ines’ Freunden zählten, also sind die grauen Kiesel folgerichtig nach links gewandert und neben dem schwarzen zu liegen gekommen.
Diese kleine Familienaufstellung hat ein wenig Ordnung in die Gedanken des Lemming gebracht. So gering die Chance auch war: Wenn er von den Pförtnern etwas wollte, musste er so tun, als ob …
«Der Ferdinand schickt mich …», hat der Lemming gemurmelt, als ihm nach wiederholtem Klopfen endlich die Tür geöffnet wurde. Die Garderobe der Frau, die ihn mit geröteten, noch bettschweren Augenlidern anblinzelte, hat ihm ein wenig von seiner Befangenheit genommen: Herr und Frau Schlafrock beim ersten Rendezvous, hat der Lemming gedacht, wenn das nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft ist …
«Was? Was haben S’ g’sagt?»
«Ferdinand Buchwieser … Er schickt mich …»
Eine leichte, aber bemerkenswerte Wandlung ist in diesem Moment mit ihr vorgegangen. Ihr Gesicht hat sich gewissermaßen in zwei Hemisphären aufgeteilt, in eine feuchte nördliche und eine dürre südliche: Unten verhärtete sich ihr Mund, während ihr oben Tränen in die Augen traten. Es hat kurz so gewirkt, als wolle sie wortlos die Tür schließen, aber irgendetwas hat sie dann doch davon abgehalten.
«Das geht gar net … Der Ferdinand ist tot», hat sie mit rauer Stimme gesagt.
«Ich weiß. Deshalb bin ich ja hier …»
Sie hat den Lemming unschlüssig angeschaut, ist schließlich zur Seite getreten und hat den Weg freigemacht.
«Komm halt», hat sie gebrummt, «komm halt, wenns d’ scho da bist …»
Düster ist es im Wohnzimmer von Franz und Lisa Bauer, verblüffend düster, obwohl ein Sonnenstrahl durchs Fenster fällt, in dem Myriaden glitzernder Staubpartikel tanzen. Schwer, aber billig wirken die Möbel, auf denen sich dunkles Furnierwellt; der Teppich, der in seiner Kindheit grün gewesen sein dürfte, hat sich der schwarzbraunen Farbe des Bretterbodens längst angeglichen: ein wahres Milbenparadies, wie der Lemming vermutet. Hinter einer wuchtigen Kommode führt ein Durchgang zur Küche: Durch den halb geöffneten Vorhang lässt sich – neben einer weiteren Tür – die Spüle erkennen, in der sich Geschirrberge türmen. Auf dem Couchtisch zwischen den Lehnstühlen stehen die Zeugen einer langen Nacht: ein überquellender Aschenbecher, drei Weinflaschen, zwei geleerte und eine halb volle. Aber nur ein Glas. Es riecht nach kaltem Rauch.
«Was is jetzt? Willst was trinken?»
«Ach so … nein, gar nichts momentan … danke …»
Sie beugt sich vor und entkorkt die angebrochene Flasche. Schenkt sich ein. Nimmt einen Schluck, gedankenverloren. Hebt dann den Blick und sieht den Lemming an, während sich der Zug um ihre Lippen abermals verhärtet.
«Und?», fragt sie. «Ich lausche.»
Das Hirn des Lemming arbeitet fieberhaft. Er versucht, das ambivalente Verhalten der Frau zu entschlüsseln. Er sucht nach dem goldenen Sandkorn in der Wüste seines Geistes.
«Der Ferdinand hat mich gebeten … falls ihm etwas zustößt … also, dass ich bei Ihnen, ich meine, bei euch … vorbeischaue.»
Und wieder verschiebt sich die Mimik der Lisa Bauer: Jetzt verengen sich Mund und Augen gleichermaßen.
«Bei
uns
?», fragt sie lauernd. «Bei
uns
, hat er g’sagt, sollst vorbeischauen?»
«Nein, nein», verbessert sich der Lemming rasch, «bei Ihnen, also bei dir …»
«Aha …»
«Er hat gesagt, der Ferdinand:
Wenn mir was passiert
, hat er gesagt,
wenn mir was passiert, dann geh zur Lisa
…»
«Aha …» Leichte Entspannung im Mienenspiel der Pförtnerin. Der Lemming atmet auf. Er
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