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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Flasche wegzubringen. Ich sollte gewissermaßen als Likörersatz fungieren, als menschliches Surrogat für den Stoff, aus dem ihre chronischen Albträume waren. Deshalb hatten sich die beiden auch einen Dreizehnjährigen geholt: Es heißt, dass kleine Kinder Liebe brauchen, und das war das Letzte, was die Frau des Apothekers zu geben hatte. Im Gegenteil:
Ich
sollte mich um
sie
kümmern; mir war die Aufgabe zugedacht, dieses abgewrackte, bodenlose Fass mit Zuneigung zu füllen. Die Idee, einen Jugendlichen aufzunehmen, gründete auf einem Vorfall, der sich nur wenige Wochen zuvor im Geschäft des Apothekers zugetragen hatte. Obwohl ich die Geschichte nur in Bruchstücken erfuhr, konnte ich sie mir bald zusammenreimen: Um ihrer ständigen Eifersucht Herr zu werden, hatte der Apotheker seine Frau eine Zeit lang zur Arbeitmitgenommen; er hatte wohl gehofft, ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen, wenn sie ihn auch tagsüber kontrollieren konnte. Im Grunde gab es nichts für sie zu tun, allenfalls kleinere Tätigkeiten im Lager, die sie, wenn überhaupt, dann mit der Miene eines sterbenden Schwans ausführte. Meistens stand sie hinter dem Ladentisch herum, angetan mit einem langen weißen Mantel, und bewachte ihren Mann mit Argusaugen. Höflich und freundlich bediente er die Kunden, doch bemerkte er bald, dass er dem ehelichen Frieden damit keine guten Dienste tat. Wann immer eine Frau zwischen sechzehn und sechzig im Geschäft erschien, brach nämlich wenig später der Terror los: «Oh, wie charmant der Herr Magister heute wieder ist!
Bitte schön, die Dame, danke sehr, Gnädigste, beehren S’ uns bald wieder
… Magst ihr nicht hinterherlaufen? Na geh schon, tu dir keinen Zwang an! Die Gnädigste hat sicher nichts dagegen, wenn du ihr zwischen die gnädigen Schenkerln kriechst!» Solche und ähnliche Szenen muss es oft gegeben haben, sie vergifteten die Atmosphäre, und so war es kein Wunder, dass die Kundschaft nach und nach ausblieb. Die Umsätze gingen zurück, und eines Morgens kündigte der schon lange entnervte Gehilfe. Es muss an diesem Tag gewesen sein, dass die Frau des Apothekers den Bogen endgültig überspannte.
    Das Mädchen, das gegen die Mittagszeit den Laden betrat, kam regelmäßig vorbei, um Präservative zu kaufen. Sie hätte sie im Supermarkt viel billiger bekommen, aber wahrscheinlich dachte sie wie viele Leute, dass ein höherer Preis auch bessere Qualität verspricht. Der Apotheker wusste natürlich, dass ihre Jugend und ihr offensichtlich unbeschwertes Liebesleben seiner Frau ein Dorn im Auge waren. Umso mehr überraschte ihn deren plötzliche Liebenswürdigkeit. Mit einem breiten Lächeln ging sie nach hinten ins Lager, um die gewünschte Ware zu holen. Und als das Mädchen bezahltund das Geschäft verlassen hatte, enhielt sie sich jeglicher bissigen Bemerkung.
    Durchlöcherte Kondome funktionieren nicht so gut. Das war auch dem Apotheker klar, als das Mädchen nach zwei Wochen wiederkam und die angebrochene Packung wutentbrannt auf den Ladentisch knallte. Ein winziger Nadelstich ging quer durch die Schachtel, ein nahezu unsichtbares Loch, das man erst entdeckt, wenn es zu spät ist. Und es war zu spät, für die junge Frau jedenfalls. Sie brütete bereits ein Kind aus. Den Apotheker kostete der Vorfall ein stattliches Bußgeld und eine weitere Kundin; seiner Frau bescherte er einen Ziehsohn. Sie hatte wohl eingesehen, dass sie zu weit gegangen war, also willigte sie zähneknirschend ein, fortan daheim zu bleiben, um den Laden nicht ganz zu ruinieren. Der Preis dafür war ich.
    Drei Jahre lang lebte ich bei den beiden, drei Jahre, die ich gewissermaßen als Ziegenhirt verbrachte. Allerdings nahm ich das gerne in Kauf; es war das beste Training, das meinem Umgang mit geistiger Armut und menschlicher Schwäche zuteil werden konnte. Außerdem pflegte ich oft nach der Schule das Geschäft des Apothekers zu besuchen. Hier wurde mir mein glückliches Schicksal erst recht bewusst. Die Apotheke war mehr als ein Hort des Wissens für mich, sie entpuppte sich als wahre Waffenkammer: Ich lernte Substanzen kennen, deren Wirkung auf das menschliche Gemüt meine Vorstellung bei weitem übertraf. Wenn ich dem direkten Einfluss des Geistes auf den Geist auch weiterhin den Vorzug gab, so musste ich doch eingestehen, dass manche Stoffe mehr vermögen als die reine Suggestion. Die Chemie ist die Infanterie der göttlichen Heerscharen.
    Drei Jahre, und ich hatte genug gelernt. Als der Apotheker in einem seltenen

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