Lemmings Himmelfahrt
abzuwiegeln. «Ich hab nicht
Sie
gemeint … ich meine, dass
Sie
Besuch hatten … sondern …» Vergiss es, Lemming. Einmal aus dem Tritt gebracht, kannst du nur noch von einem Fettnapf in den nächsten stolpern. Du solltest es langsam wissen, dass es dann besser ist, innezuhalten, zu schweigen, zu warten, bis du dein inneres Gleichgewicht wiedergefunden hast …
«Ich … ich …», stößt Schwester Paula jetzt krächzend hervor. «Ich … hab gleich g’wusst, mit Ihnen werd ich nix wie Schwierigkeiten haben!» Sie dreht sich auf dem Absatz um und stampft aus der Türe wie Wotans Walküre.
Es macht aber nichts. Überhaupt nichts. Sie hätte dem Lemmingvermutlich nichts Neues berichten können. Ihren Krankenschwesternreport hat sie ja schon vorher abgeliefert, und der männliche Hauptdarsteller darin ist ein blauer Overall gewesen, kein weißer Handschuh. Von dem ungeladenen Gast im Zimmer des Lemming hat sie mit ziemlicher Sicherheit nichts mitbekommen. Den kann bestenfalls sein Nachbar gesehen haben, Robert Stillmann, dessen Augen aber nach wie vor geschlossen sind.
Der Lemming erhebt sich und schlurft grübelnd Richtung Fenster. Die Figuren sind aufgestellt, so denkt er, Balint hat den ersten Zug gemacht und geht, wie es scheint, sofort zum Angriff über. Zugleich macht sich der kleine Geiger aber unsichtbar, um sich gewieft vor einem Gegenschlag zu schützen. Was also tun? Ferdinand Buchwieser kommt dem Lemming in den Sinn, der gestern früh die Partie seines Lebens gegen Balint verloren hat, Ferdinand Buchwieser, der sich nicht mehr wehren kann. Wenn der Täter selbst im Dunkel bleibt, dann gilt es, das Opfer zu durchleuchten, um so dem Denken und Fühlen, den Stärken und Schwächen seines Mörders auf die Schliche zu kommen. Eine verdeckte Attacke über die Flanke sozusagen, wie sie im Lehrbuch der Krimineser steht. Jetzt, da ihm Balint offen den Krieg erklärt hat, rechnet er vielleicht mit einer solchen Finte nicht: Auch Schachspieler pflegen eher selten die geschlagenen Figuren anzugreifen, die schon ausgemustert neben dem Spielbrett liegen …
Der Entschluss des Lemming ist gefasst, und für einen Moment wird ihm leichter ums Herz: Das Leben ist einfach erträglicher, wenn man einen Plan hat, und sei er auch noch so vertrottelt …
Er zieht die Gardine zur Seite und schaut versonnen aus dem Fenster. Draußen ist alles ins warme Licht des frühen Nachmittags getaucht. Der sanfte Wind, der vorhin noch über die Landschaft gestrichen ist, hat nachgelassen. Blumen undGräser, Büsche und Bäume aalen sich zufrieden in der Sonne, verharren genügsam und still. So wie das Denkmal, das keine zehn Meter entfernt auf dem Rasen steht. Reglos steht es da und starrt dem Lemming ins Gesicht.
Es ist Grock.
15
Mit dreizehn Jahren beschloss ich, adoptiert zu werden.
Das Leben im Waisenhaus hatte mich gelehrt, was es mich zu lehren hatte; längst durchschaute ich die bizarren Beziehungsgeflechte, in die sich Menschen zu verstricken pflegen, und ich verstand sie für mein Spiel zu nützen. Aber es war eine enge und sehr begrenzte Welt; sie durfte mir nicht mehr als eine Übungswiese sein. Das winzige Chaos eines Sandkastens ist von rechten Winkeln umgeben; der Geist jedoch – so dachte ich damals noch – hat jeder Ordnung zu trotzen, hat jeden Rahmen zu sprengen, der ihn beschränkt. Nach Jahren erst wurde mir klar, dass der Rahmen dem Chaos die goldene Brücke baut. Denn jede Bewegung misst sich am Unbewegten: Erst in der Ruhe wird der Sturm zum Sturm, erst auf dem festen Boden geht das Glas zu Bruch; es könnte sonst ewig weiterfallen, ohne Schaden zu nehmen. Jeder Aufruhr braucht den Hexenkessel, der ihn umgibt; ohne Grenzen macht das Chaos keinen rechten Spaß. Doch auf diese Erkenntnis sollte ich erst viel später stoßen.
Ich begann mich also mit den kinderlosen Pärchen zu befassen, die das Waisenhaus von Zeit zu Zeit besuchten. Ich versuchte zu ergründen, welche Kräfte sie trieben, und setzte alles daran, ihren Wünschen und Vorlieben zu entsprechen. Trotzdem blieb meinen Bemühungen ein rascher Erfolg versagt: Zu verschieden waren die Geschmäcker, die es zu befriedigengalt; ihrer unüberschaubaren Vielfalt drohten meine Fähigkeiten nicht gewachsen zu sein. Während manche der Paare den schüchternen Mädchentyp bevorzugten, wandten sich andere der Gattung des frechen Lausbuben zu. Die einen legten Wert auf Intelligenz, die anderen auf Zurückhaltung und Bescheidenheit,
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