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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Ohne den Kopf zu wenden, tastet er nach seinem Bierglas und steht langsam auf. Es wird still im
Café Dreher
. Vielleicht ein Dutzend erwartungsvoller Augenpaare sind jetzt auf die Szene gerichtet, als handle es sich um eine eigens für sie inszenierte Gratisvorführung. Aber der erste Akt soll nicht halten, was er verspricht. Kein Blut. Noch kein Blut.
    «Komm nur, Poldi, komm nur her, Wallisch, du kastrierter Bullenbeutel   …», sagt der Mann mit dem Stecktuch ausdruckslos.Der Lemming stutzt. Das Glas drohend erhoben, hält er im Angriff inne. Leopold Wallisch. Er kennt den anderen nicht, so viel steht fest. Er ist dem anderen noch nie begegnet. Aber: Der andere weiß seinen Namen.
    «Woher   … ich verstehe nicht   …»
    «Was ist, willst jetzt hinhauen oder diskutieren?»
    «Eigentlich   … hinhauen   …» Sichtlich verwirrt lässt der Lemming den Arm sinken und setzt sich dann ohne weitere Umstände auf einen der freien Sessel am Tisch des Fremden. Sein Zorn ist, wenn auch nicht völlig abgeklungen, so doch gebändigt. Er fühlt sich wie ein Bauer, der vom eigenen Schlachtschwein erkannt und begrüßt wird; das nimmt ihm den Sturm aus den Segeln, das entlarvt und beschämt ihn, das raubt seinem Auftritt die Dramatik.
    Die Enttäuschung der anderen Gäste ist nicht zu überhören. Zwar nimmt man die allenthalben gestockten Gespräche wieder auf, doch man tut es mit dem murrenden Missmut eines gelangweilten Premierenpublikums. Schlechte Regie, kein Blut, der reine Betrug.
    «Herr Ober, bringen S’ noch ein Glasel!», ruft der Hagere in den Raum und wendet sich gleich darauf mit gesenkter, beinahe vertraulicher Stimme an den Lemming:
    «Trinkst eh einen Whisky, Wallisch   … Siehst du? Ein kleiner Ärger – schon geht’s dir besser   … Was ist denn gar so Schlimmes passiert? Na, erzähl schon   …»
    Dieser plötzliche Schwenk im Verhalten des eben noch verhassten Gegners entwaffnet den Lemming vollends. Er muss dem anderen Recht geben: Seine Wut hat der Schwermut die Schwere genommen, sein vermeintlicher Feind hat ihm einen Freundesdienst erwiesen. Trotzdem zwingt ihn etwas, auf der Hut zu sein, vielleicht eine Trägheit des Geistes, der sich den neuen Umständen nicht so rasch anzupassen vermag, vielleicht aber auch eine unbestimmbare Ahnung.
    «Wer sind Sie   … Woher wissen Sie meinen Namen?»
    «Ist das jetzt wichtig? Um mich geht’s doch gar nicht   … Du bist der mit den Schwierigkeiten   … Weißt, Wallisch, Reden hilft, glaub mir   … Also sag schon – nein, lass mich raten   … eine Frau, stimmt’s?»
    «Möglich.»
    «Eine Frau also   … Es ist eh immer eine Frau   … Erzähl schon – nein, wart kurz   … Prost   … Auf bessere Zeiten   …»
    Er streckt dem Lemming sein Glas entgegen, und der nimmt das seine, ganz automatisch, als hinge er an unsichtbaren, von der Willenskraft des anderen gelenkten Fäden, und stößt mit ihm an.
    «Gut so   … Kann schon verstehen, dass du jetzt ein bissel zurückhaltend bist   … Tät mir nicht anders gehen an deiner Stelle   … Aber am Ende führt das Misstrauen gar nirgends hin, nur in die Einsamkeit   … Wir sind halt angewiesen aufeinander, wir Menschen – zum Glauben aneinander verdammt, meinst nicht?»
    «Doch.»
    «Na siehst du   … Eine Frau also   … Das kenn ich   … Zuerst das ewige Suchen nach der fehlenden Hälfte, die uns passt wie ein Handschuh   … Dann die große Erfüllung, das Ziel vor Augen – und dann   … Warts ihr lange zusammen?»
    «Ein Jahr.»
    «Na servus   … Lang genug, dass es wehtut   … Und jetzt? Was war? Hat s’ gar einen anderen?»
    «Ja.»
    «Au   … Scheiße. Ich werd sie nie verstehen, die Weiber   … Seit wann weißt es denn?»
    «Seit einer Stunde   …»
    Es ist schon wieder so weit. Wieder steigen die Tränen hoch und drängen aus den verschwollenen Augen. Aber diesmal sind es andere, heißere Tränen als vorhin, Kindertränen, dieman in den Armen einer Mutter weint, süße Tränen der Geborgenheit und des Verstandenseins. Der Damm bricht, und mit ihm bricht jeder Widerstand. Schluchzend, von Krämpfen gebeutelt, beginnt der Lemming zu erzählen. Der Fremde hört zu, und während ein wissendes Lächeln seinen Mund umspielt, hebt er an dieser oder jener Stelle der Geschichte mitfühlend die Augenbrauen und nickt.
    Es geht wohl eine halbe Stunde so: Der eine schüttet dem anderen sein Herz aus; der andere schüttet dem einen seinen Whisky ins Glas. Wie sie

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