Lemmings Himmelfahrt
zwischen zwei Buden und hält abrupt an.
Keine fünf Meter entfernt steht ein Mann, dessen hervorragendstes Merkmal die silberne Damenpistole ist, mit der er auf den Lemming zielt. Kaum weniger ungewöhnlich sind die Handschuhe, die er trägt, weiße Stoffhandschuhe, so wie die jungen Herren Tänzer, die alljährlich den Wiener Opernball eröffnen. Gleich ihnen scheint sich der Mann im Zustand höchster Erregung zu befinden. Sein kleiner Leib zittert, alskönne er die Waffe kaum noch halten, und die Brille in seinem verschwitzten Gesicht würde sich zweifellos beschlagen, wäre es ein kühlerer Tag. Aber so geben die Gläser den Blick auf ein Paar unnatürlich vorgewölbte, fiebrig flackernde Augen frei.
«Ich weiß, was ich tu!», stammelt er und umklammert den Pistolengriff noch ein wenig fester. «Ich weiß genau, was ich tu! Ich bin ein Mann! Ein Mann!»
Zwei dünne Speichelschlieren rinnen aus den Mundwinkeln des Schmächtigen, um sich am Kinn zu einem schlenkernden Schleimsack zu vereinigen; ein Tropfen löst sich daraus und fällt zu Boden. Mag sein, dass das der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt. Im Kopf des Lemming schnappt ein Schalter um und lässt ihn aus der Lethargie erwachen. In seinem Rücken das schmierige Schandmaul, den sadistischen Quälgeist aus dem
Dreher
, vor sich einen aufgeregt geifernden Zwerg, der seinen Wichtelrevolver auf ihn richtet, als sei es die Erektion des Gottes Pan persönlich. Zu absurd ist die Situation, zu verwirrend die Ereignisse der letzten zwei Stunden. Sie würden, selbst über ein ganzes Jahr verteilt, dazu ausreichen, einen stabileren Geist als den seinen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber wahrscheinlich ist es genau dieser Überdruck, diese Gedrängtheit des Geschehens, was ihn nun schlagartig in die Gegenwart zurückruft. Er hat keine Zeit, um etwas zu begreifen oder gar zu überdenken; sein System ist heillos überlastet, also tut es das einzig Richtige: Es schaltet auf Stand-by-Betrieb. Das Notstromaggregat springt an, und siehe da, es funktioniert.
«Was tun Sie denn? Erklären Sie es mir …»
«Ich weiß schon, was ich tu! Es ist sein Befehl! Sein Gesetz! Ich muss ein Mann sein! Keiner macht mich kaputt! Keiner macht Gottes Schöpfung kaputt!»
«Aber was wollen Sie denn von mir?»
«Lassen Sie mich in Ruhe! Ich weiß, was ich tu! Nicht mehr krank sein! Nie wieder krank sein! Alles zerbricht sonst, Gott, das Gesetz und überhaupt alles!»
In diesem Moment tritt der Mann aus dem
Dreher
hinter den Lemming. Seine Stimme klingt leicht überrascht.
«Schau an … Die Oblatenstirn! Wann haben s’ denn dich rausg’lassen, du Arschgeige?
Die Augen des Schmächtigen treten jetzt so weit aus ihren Höhlen, dass sie an der Innenseite der Brillengläser zu kleben scheinen.
«Da hast du es!», keucht er. «Sieh mich an, du Schwein! Ich bin der Zorn! Ich bin die Strafe!»
Dann drückt er ab.
3
Der Lemming weiß nicht mehr, ob sein Kopf im Augenblick des Schusses zur Seite gezuckt ist. Er kann sich seiner eigenen Reflexe nicht entsinnen; sie sind rein instinktiv erfolgt und haben keine Spuren im Bewusstsein hinterlassen. Umso genauer hat er alle äußeren Vorgänge wahrgenommen; die Zehntelsekunde des Mordes hat sich seinem Gedächtnis eingeprägt und zieht in Endlosschleifen daran vorbei.
Zunächst die drei Blitze; einer an der Mündung der Waffe, zwei in den Augen des Schützen. Natürlich sind es Spiegelungen der Brillengläser gewesen, aber sie haben gewirkt wie das erstaunte Aufflackern im Blick des Zauberlehrlings, dem erstmals ein magischer Trick gelingt. Dann der Knall, trocken und verhalten, als würde man eine schlechte Flasche Wein entkorken. Im selben Moment das Geschoss. Der Lemming bildet sich ein, er habe es im Flug
gesehen
: Klein, zylindrisch, glitzernd ist es auf ihn zugekommen, und hätte es sprechen können, es würde wohl etwas Ähnliches gesagt haben wie:
Verzeihen Sie, mein Herr. Ich bin Ihnen gar nicht zugedacht, mein Herr. Gleichwohl sehe ich mich nicht in der Lage, meine Richtung jetzt noch zu ändern. Diese Verwechslung tut mir Leid, mein Herr, für mich selbst nicht weniger als für Sie, denn schließlich haben wir beide nur dieses eine Leben …
Ja, hätte es sprechen können. Stattdessen hat es sich seiner Wange genähert, ist, aus welchem Grund auch immer, daran vorbeigezogen und hat sein linkes Ohrläppchen nur um Millimeter verfehlt. Nicht mehr als ein flüchtiges Sirren ist zu hören gewesen,
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